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Logbuch_2015 - Kinderbücher

"Bestimmte Literatur hat keine Zeit": Steffen Lehmann verlegt seit 23 Jahren ostdeutsche Kinderbuchklassiker

www.kreuzer-leipzig.de 53 KinderBücher | Leipzig, Anfang der neunziger Jahre: Die Len- instraße führt von Südosten in die Stadt hin- ein. Bald wird sie Prager Straße heißen und der dort ansässige Auslieferer für Verlage, die Leip- ziger Kommissions- und Großbuchhandelsgesell- schaft (LKG), um seine Existenz kämpfen. Nach der Pri­vatisierung der LKG bleiben von 1.000 Mit­ arbeitern nur 60 übrig. Auch Steffen Lehmann, damals in der Abteilung für Importe aus Osteu- ropa angestellt, muss sich neu orientieren. Er sieht Tonnen von Büchern nach der Wende zu Makulatur werden. Er kennt die Auflagenzahlen seiner Abteilung genau und denkt: Osteuropäi- sche Literatur macht keiner mehr, wenn wir das nicht in die Hand nehmen. Gemeinsam mit vier weiteren ehemaligen Buchimporteuren trotzt er dem Zeitgeist. Lehmann sagt heute: »Wir mach- ten das ganze Gegenteil von dem, was en vogue war«. Lehmann wird zum Buchverleger einer Kinderbuchliteratur, die just zur Wende für Ramsch, aus der Zeit gefallen und für unverkäuf- lich erklärt wurde. Ab 1992 verlegt er im neu gegründeten Verlag Leiv ­alle sechs Bände der »Zauberland«-Reihe des russischen Autors Alexander Wolkow, allen voran der »Zauberer der Smaragdenstadt«. Lehmann wusste um die Beliebtheit der Wolkow-Literatur in der DDR und traf ins Schwarze: Mit einer Auf- lage von 25.000 Stück pro Band wurde die Reihe zum Erfolg. Heute, über zwanzig Jahre später, verlegt der 63-Jährige immer noch Kinderbücher, die meisten davon Klassiker aus Osteuropa, un- ter ihnen »Der kleine Maulwurf«. »Wir haben eine Nische entdeckt, mit der wir als kleiner Ver- lag überleben können«, sagt Lehmann. Er sitzt am großen weißen Besprechungstisch in der Ga- lerie des offenen Verlagsraums zwischen hohen Ikea-Bücherregalen sowie einem großen Maul- wurf aus Plüsch und spricht von »Matadoren der Branche«, von Erbschaftsstreitigkeiten in den Fa- milien der Autoren, von liebevoll illustrierten Bilderbüchern, von Preisen, Stückzahlen, E-Publi- shing und vom »Computerkommunismus«, der geplanten Aushebelung des Urheberrechts. Von der ursprünglichen Gründungsmannschaft des Verlags ist nur Lehmann geblieben. Gemein- sam mit zwei Angestellten, darunter seine Toch- ter Katja Lehmann, publiziert er Erinnerungen an eine Kindheit in Ostdeutschland. Am Torgauer Platz wird Nostalgie verlegt. Über 500 Bücher, so schätzt Lehmann, habe er inzwischen in seinem Leben publiziert, etwa 20 Novitäten kommen pro Jahr hinzu. Das dreiköpfige Team gräbt Klas- siker aus, kontaktiert Au­toren und Illustratoren, liest Antiquarisches oder frische Fahnen und ent- scheidet über die nächsten Kinderbücher. Auch wenn der Verlag nicht nur Reminiszenzen aus Osteuropa, sondern auch zeitgenössische Kinder­literatur aus Westeuropa in den Handel bringt, Leiv steht mittlerweile für verlegte Os- t­algie. »Wir werden von unserer Kundschaft in diese Ecke gedrängt. Da können wir machen, was wir wollen«, so Lehmann. Die Nachfrage nach Kinderbuchklassikern sei nach wie vor groß, auch wenn selbst »Der kleine Maulwurf« die Auflag­en- zahlen der ersten Titel nicht mehr ansatzweise erreicht. Im Vergleich sind die osteuropäischen Kinderbuchklassiker jedoch immer noch unge- br­ochen und generationsübergreifend beliebt. »Man könnte denken, die Übernächsten haben damit nichts mehr am Hut. Aber bestimmte Li­ teratur lebt in sich selbst, sie hat keine Zeit«, er- klärt sich Lehmann die Nachfrage nach DDR- Klassikern. »Manche Erzählungen haben nichts mit gesellschaftlichen Umständen zu tun.« Lehmann bleibt auch konsequent, wenn es um die Aktualisierung von Literatur geht. »Ich habe was gegen die Veränderung von Worten, nur weil sie politisch nicht korrekt sind.« So taucht im »ABC-Buch für Große und Kleine« von Hans Christian Andersen unter dem Buchstaben »N« immer noch das Wort »Neger« auf. »Ich kann ­Andersen nicht umschreiben, auch wenn das Wort kolonialen Touch hat«, findet Lehmann. Er ist der Hüter seiner Bücher. Sein Selbstverständnis »als Bewahrer von dem, was war« folgt vor allem dem Wunsch seiner Kunden. Stillstand zählt mehr als Zeitgeist, wenn es um Kinderbücher als Ort der Erinnerung geht, das musste auch Steffen Leh- mann erst lernen. Die nachträgliche Kolorierung von »Nimmerklug im Knirpsenland« wurde nicht gut angenommen, ebenso wenig ein auf- gefrischtes Lektorat des »Zauberers der Smarag- denstadt«. Der Aufschrei gegen den Verlag sei groß gewesen. Lehmann vermutet, es habe an der Erstübersetzung der Bän­de mit fehlerhaften Satz- konstruktionen gelegen. Dabei scheint der Zeitgeist noch nie seine Sache gewesen zu sein. Lehmann sagt: »Wir sind keine Krawallmacher.« Still und leise verlegt Leiv im Jahr 2008 ein Kinderbuch über Kannibalismus. »Papas Geheimnis« handelt von einem Vater, der andere Menschen isst. Es handelt auch von der Liebe der Kinder zu diesem Vater. »Ein Tabubuch, das keiner verlegen wollte in Deutschland«, meint Lehmann und erzählt, wie er den Autor Thórarinn Leifsson, einen Straßenmaler aus ­Island, auf einer Messe kennengelernt hat. Auch wenn das Buch kein Kassenschlager wurde, die Bibliotheken zurückhaltend reagierten, wird Steffen Lehmann weiter Kinderbücher verlegen, die auch von einer krankenden Welt erzählen. »Wir müssen die Konflikte benennen, ein Kind kann das literarisch verarbeiten.« »En passant«, sollen, wie er meint, in den Büchern Werte ver- handelt werden. Die schlanke Struktur seines Kleinstverlages erlaubt ihm, auch solche Entschei­ dungen zu treffen und Bücher mit wenig Gewinn­ aussicht zu verlegen. Trotzdem muss gewirt­ schaftet werden. »Das Geschäft ist so eine Sache«, sagt er. Ob seine Tochter einst den Verlag über- nehmen wird, ist noch unklar. An große Konzern­ strukturen möchte Lehmann seinen Verlag ­dennoch nicht anbinden. Vieles ist ungewiss, bis auf eines, stellt er fest: »Wir machen das ganze Gegenteil.« THERESA EISELE ▶ Leiv Kinderbuchverlag, www.leiv-verlag.de »Bestimmte Literatur hat keine Zeit« Zeitlos: Steffen Lehmann verlegt seit 23 Jahren ostdeutsche Kinderbuchklassiker »Wir sind keine Krawallmacher« Verlegt Nostalgie: Steffen Lehmann SandraNeuhaus

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