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Logbuch_2015 - Titel

Musik des Denkens: Warum Lyrik nervt, wir sie aber dringend brauchen

www.kreuzer-leipzig.de8 Musik des Denkens Warum Lyrik nervt, wir sie aber dringend brauchen | TITEL Gedichte gelten als unzugänglich und schwie- rig. Gedichte haben wenige Leser. Gedichte bereiten den Verlagen Kopfschmerzen, denn sie bergen zwar hohes symbolisches Kapital, aber sie werfen keine wirtschaftliche Rendite ab. Stu- dierende fürchten das Gedicht in der Prüfung; es ist so schrecklich offen und unbestimmt, dass man fast nichts Richtiges darüber sagen kann. Und die Dozentin verzweifelt angesichts der Un- fähigkeit der Lyriktheorie, sich auf eine tragfä- hige Definition des Gedichts zu einigen. Kurz: Lyrik nervt. So hat übrigens kein Geringerer als Hans Magnus Enzensberger einen Lyrikband für junge Leser genannt. Allerdings hat Enzensber- ger, obwohl er seit Jahrzehnten als Schützer der Jugend vor den Erzeugnissen der Poesie auftritt, keineswegs damit aufgehört, selbst Lyrik zu schreiben und zu veröffentlichen. Tatsächlich ist das Gedicht allen Unkenrufen zum Trotz heute so lebendig wie selten zuvor, und es braucht sich auch keine ernsthaften Sor- gen um seine Zukunft zu machen. Für das gerade erschienene 30. »Jahrbuch der Lyrik« wurden über 7.000 Gedichte eingesandt, und dem ge- druckten Gedicht steht eine quicklebendige Oral-Poetry-Szene zur Seite. Was da geschrieben, gelesen und dargeboten wird, ist so vielfältig wie wohl nie zuvor in der Geschichte der Lyrik. Ne- ben sprachspielerischen Palindromen, konkreten und visuellen Gedichten in der Tradition der lite- rarischen Moderne (etwa bei Anja Utler oder in Ul- rike Draesners neuestem Lyrikband »subsong«) stehen freie Formen ebenso wie Sonette (zum Beispiel bei Marion Poschmann, Christian Lehnert oder Jan Wagner). Überhaupt das Sonett: Ist die­se strenge Form jemals so subtil variiert wor- den wie heute? Kaum schlägt man einen beliebi- gen Gedichtband auf, sieht man auch schon ver- kürzte Sonette, verlängerte Sonette, Sonette mit und ohne Reim, mit Alexandrinern und Blank- vers. Aber keine Sorge, wenn Ihnen das Sonett noch aus dem Deutschunterricht zum Halse her- aushängt: Vom Prosagedicht bis zum Versepos ist in der neuesten Lyrik für jeden Geschmack et- was vorbei. Und auch bei den Themen kann sich kaum einer beschweren, dass gerade seine Vor- lieben nirgends bedient werden. Sie mögen Monster? Lesen Sie Nora Gomringer! Sie haben ­es mit mythologischen Anspielungen? Daniela Danz kann damit aufwarten. Für den etwas ge- diegeneren Geschmack hätten wir auch noch Durs Grünbein im Angebot (Motto: Boah, bin ich belesen). Sie wünschen eher etwas Alltagsnähe- res, vielleicht einen zynischen Blick auf die ­nervigen Kollegen mit ihren verklärten Erinne- rungen aus der Studentenzeit: Dirk von Peters- dorff ­ist Ihr Mann. Oder etwas zum Kuscheln? Mit Tieren? Da weiß ich gar nicht, was ich Ihnen zuerst empfehlen soll, so viele Tiere sind mir in letzter Zeit lyrisch über den Weg gehoppelt, ge- flattert und geschwommen: Dodos (Silke ­Scheuermann) ­und Seekühe (Heinrich Detering), Pferde, Esel und Koalas (Jan Wagner), Raben, ­Kuckucke und Amselweibchen (Ulrike Draesner); und für die Schleußiger Lokalpatrioten nicht zu vergessen: der Einzug unseres Wappentiers, des Nutrias, in die hohe Literatur (Udo Grashoff, Carl-Christian Elze). Sie sehen: Bei aller Fülle der Möglichkeiten las- sen sich doch so etwas wie Trends in der zeitge- nössischen Lyrik beobachten, aus denen ich für die orientierungsbedürftigen unter meinen Le- sern drei herausgreifen möchte. Das Gedicht wird, erstens, konkreter, formal bestimmter, klanglich weicher. Nach den Sprachzertrüm­ merungsexperimenten der vergangenen Jahr- zehnte macht sich »Endreimstimmung« breit (Marcel Beyer). Eine neue lyrische Musikalität hält beispielsweise in die Gedichte Christian ­Lehnerts Einzug oder kann, siehe Beyer, als Rhythmus, Sound und Sampling erscheinen. Sprachexperimente gibt es weiter, aber sie sind nicht mehr Norm oder einzige Möglichkeit, wie man überhaupt noch dichten kann. Sprachliches Experiment und erkennbare Form müssen sich nicht mehr ausschließen, auch die Montagen und Samplings bei Marcel Beyer sind in regel­ mäßige Vierzeiler sortiert und gebändigt. Das ist also keine Rückkehr zur strengen Form, sondern »Das Gedicht ist so lebendig wie selten zuvor«

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