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Logbuch_2016

Die Altstadt von Prag: Ein Erfahrungsbericht aus der Touristenhölle

www.kreuzer-leipzig.de | MAGAZIN 2424 Die Altstadt von Prag ist im Sommer ein belieb- ter Touristenmagnet. Man könnte sogar mei- nen, der Rest der Stadt sei nicht für den Tourismus zugelassen, da sich die Touristen fast ausschließ- lich auf die Altstadt konzentrieren, wo sie für sich ideale Lebensbedingungen vorfinden. Grundlage des Tourismus ist ja nicht ein besonders schöner und weltweit einmaliger Ort, diese Eigenschaften werden durch den Tourismus schnell zerstört, sondern eine große Anzahl anderer Touristen. ­Eigentlich geht es nur darum, möglichst nie al- leine mit Einheimischen zu sein und möglichst wenig zu erleben. Ein endloser Strom von Men- schen wandert in eine bestimmte Richtung, die vor Jahren durch Zufall festgelegt wurde. Dieser Strom reißt nie wieder ab, weil sich die Neuan- kömmlinge einfach einordnen, man muss ja ­irgendwohin gehen, und es fällt schwer, in eine andere Richtung zu gehen als alle anderen. An ­einer Ecke steht ein Geiger und spielt die Pizza »Vier Jahreszeiten« von Vivaldi, meistens die eine Stelle, wo es so schön schnell wird und fast nach David Garrett klingt. Man weiß gar nicht, was toller ist: das oder der alte Mann, der auf sei- ner Ein-Mann-Musikmaschine einen Militär- marsch spielt. Leider hat er noch beide Arme, sonst wäre es noch beeindruckender. Ein als Al- bert ­Einstein Verkleideter steht auf einem Podest und wartet, dass man ihm Geld hinwirft, damit ­er seine Pose wechseln darf. Wenn man Pech hat, zeigt er auf einen und macht eine obszöne Geste, über die die Touristen lachen. Einer nach dem anderen lässt sich mit ihm fotografieren. Man sucht ja im Urlaub immer nach einem ganz be- sonderen Bild-Motiv, deshalb knipst man auch die Kafka-Gedenktafel an seinem Geburtshaus, das allerdings abgebrannt ist und wieder aufge- baut wurde. Es ist aufregend, durch dieselben Straßen zu gehen, durch die schon Kafka gegan- gen ist, das geht auch schneller als seine Bücher zu lesen. Die vielen Russinnen, die sich seit dem Ende des Sozialismus unter die Touristen mi- schen, wirken gar nicht so finster wie Putin, sie stellen sich am liebsten vor Blumenrabatten und Springbrunnen auf und lassen sich von ihrem Freund fotografieren. Sie wollen den flüchtigen Moment verewigen, als sie noch Normalgewicht hatten. Für unsere Nation unerwarteten Humor beweist eine Gruppe junger Deutscher in einheit­ lichen, mit einem witzigen Spruch beschrifteten T-Shirts. Ihr Freund im gelben Ganzkörperkostüm heiratet morgen und muss vorher einen Tag als Spermium verkleidet um Geld betteln. Eine Spa- nierin hat Mitleid und gibt ihm etwas. Der Mann im Mittelalterkostüm, der in einer Ecke seit Jah- ren auf der Gitarre »Greensleeves« spielt, guckt neidisch. In den aufwendig renovierten Gebäuden der Altstadt gibt es alle Geschäfte so oft, dass man keine Angst haben muss, ein bestimmtes zu ver- passen. Am häufigsten sind Kiff-Utensilien-Shops, Shops für Postkarten mit dem Hradschin, Shops für Schneekugeln mit dem Hradschin, Shops für T-Shirts mit Kafka, Shops mit Lenin- oder Hitler- Masken, Shops mit böhmischen Glaswaren aus China, Kleiner-Maulwurf-Geschäfte, Shops, in denen­es sämtliche Spieler des FC Barcelona als Marionette gibt. Seit ein paar Jahren lockt auch eine Dalí-Dauerausstellung, falls man die in Mad- rid, Berlin, London, New York oder einem ähnli- Die Altstadt von Prag Ein Erfahrungsbericht aus der Touristenhölle von Jochen Schmidt Der Mann im Mittelalter­ kostüm guckt neidisch Segway-Fun im historischen Prag JOCHENSCHMIDT

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