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Logbuch_2016

Lasha Bugadze: Der Literaturexpress; Peter Stamm: Weit über das Land

www.kreuzer-leipzig.de | ROMANE 38 Georgien, Tiflis, 2008. Vor dem Hintergrund des beginnenden Kaukasuskrieges treibt der junge Schriftsteller Zaza mehr oder weniger ziel­ und antriebslos durch seine Tage. Sein Werk be­ steht aus einem einzigen Erzählband, dessen Ver­ kauf schleppend läuft, seine Freundin Elene trennt sich von ihm, nachdem er sich eines Nachts im Schlaf verplappert und seine Untreue gesteht, er liegt den Eltern auf der Tasche, steht selten vor Mittag auf und hat keine Idee, worüber er als Nächstes schreiben könnte. Einziger Lichtblick: Er wird Teilnehmer des Literaturexpresses sein. Zusammen mit 99 anderen – ähnlich glücklosen – europäischen Autoren wird er einen Monat lang in einem Zug durch Europa fahren, ausgehend von Lissabon, mit Endziel Berlin. Die Rezensentin widerstand nur schwer dem Drang, sich die Teilnehmerliste des realen »Lite­ raturexpresses Europa 2000« zu besorgen, um Lasha Bugadzes Buch »Der Literaturexpress« in voyeuristischer Manier als Schlüsselroman zu lesen. Tatsächlich fuhren im Sommer 2000 über hundert Autoren anderthalb Monate lang quer durch Europa, schrieben, diskutierten, lasen vor und kamen sich näher. Doch das Entlarven der Fi­ guren hätte das Buch nicht interessanter gemacht. Es ist auch so ein gelungenes Stück Literatur. Bugadze, Jahrgang 1977, lebt in Tiflis. Er schreibt Romane, Kurzgeschichten, Theaterstücke, gewann Preise und moderiert in Radio und TV Literatur­ sendungen. Seinen Roman beginnt er mit den Worten: »Im August warfen die Russen Bomben auf uns. Im September trennte sich Elene von mir. Im Oktober fuhr ich nach Lissabon.« Ein verdammt guter Einstieg, und in diesem lakonischen, tragi­ komischen Ton fährt er fort. Gemeinsam mit Zaza kommt ein zweiter Georgier mit auf die Reise – der neurotische Lyriker Zwiad Meipariani. Gleich in Lissabon werden sie in einen Bus »verfrach­ tet«, der »auf wundersame Weise die postsowje­ tischen Konflikte der Neunzigerjahre wider­ spiegelt«. Armenier, Aserbaidschaner, Russen, Tschetschenen und viele andere werden da zu­ sammengewürfelt, allesamt angeführt von Heinz, dem deutschen Organisator, der streng darauf besteht: »Lasst uns Politik Poli­tik sein lassen und im Zug nur über Literatur reden.« Eine absurde Forderung angesichts der politischen Lage in Za­ zas und Zwiads Heimat. Während also die Unabhängigkeitsbestrebungen Südossetiens und Abchasiens von Russland mili­ tärisch unterstützt werden und georgische Min­ derheiten aus Südossetien fliehen, durchqueren Zaza und die anderen 99 Autoren Europa. Ihr Auf­ trag für die Reise: Schreibt! Kein Muss, aber ein solides Kann Ein heiter-ironischer Reisebericht: Lasha Bugadzes »Der Literaturexpress« Peter Stamms neuer Roman beginnt mit einem Idyll: Büsche umschließen das Einfamilien­ hausglück am Rand einer kleineren Stadt in der Schweiz. Tagsüber sind sie kaum wahrnehmbar, nachts allerdings werfen sie lange Schatten und wirken so bedrohlich, als wären sie die Mauern eines Gefängnisses. Thomas, der Protagonist in »Weit über das Land«, entflieht diesem Idyll. Ge­ rade aus dem Urlaub in Spanien gekommen, ver­ lässt er seine Frau und seine beiden Kinder und macht sich nur mit einem Pullover am Leib und etwas Kleingeld in der Tasche auf den Weg in die Wälder der Umgebung. Thomas will einem allzu vorgezeichneten Leben entkommen und gehört damit zum typischen Stamm­Personal der Unsicheren und Verlorenen. Er fühlt sich durch Büroarbeit und Familien­ leben eingeengt, Freiheit versprechen dagegen die Berge und Wälder. Zunächst lebt er wie ein Vagabund, verbringt den ersten Winter auf einer einsamen Berghütte und nimmt schließlich Ge­ legenheitsjobs an, um sich die nächsten Reisen leisten zu können. Als er bei seinen Wanderun­ gen über die Berge auf ein kleines Dorf hinab­ schaut, das geordnet im Tal vor ihm liegt, fragt er sich: »Wie viel Kraft nötig sein musste, diese Ordnung aufrecht zu erhalten, jeden Morgen früh aufzustehen und die immer gleichen Arbeiten zu verrichten, die Kühe zu melken, den Stall zu mis­ ten, die Wiesen zu düngen und zu mähen und das Heu einzubringen.« Kraft bedeutet für ihn dabei nicht die körperliche Anstrengung, die mit der Ar­ beit verbunden ist, sondern die Zuversicht, dass all diese Arbeit einen Sinn ergibt. Das Unglück hinter der glücklichen Fassade und der Fluchtversuch aus zu geordneten Verhältnis­ sen sind Themen, die eifrige Leser von Peter Stamm wiedererkennen werden, zum Beispiel aus seinem Erzählband »Seerücken«. Sein neues Buch kommt als Abenteuerroman daher und gewinnt auch durch seine Konstruktion an Span­ nung. Denn parallel zu Thomas’Flucht erzählt Stamm die Geschichte seiner Frau Astrid, die trotz der eigenen Unsicherheiten um Haltung ringt und jahrelang auf ihren Mann wartet. Beiden Fi­ guren wird das gleiche Maß an Empathie zuteil. Die Entscheidung, welcher Weg der richtige ist, bleibt jedem Leser selbst überlassen. Dafür sorgt auch der Sound, den Peter Stamms Texte haben. Ein meisterhafter Minimalismus, der detailge­ nau die äußeren und inneren Landschaften fest­ hält – ohne eine Wertung vorzugeben und ohne ein Wort zu viel zu sagen. In seinem neuen Ro­ man hat Stamm diese Erzählweise noch einmal zugespitzt. Ihm gelingt eine intensive Meditation darüber, ob die Flucht aus dem eigenen Leben möglich ist. TINO DALLMANN ▶ Peter Stamm: Weit über das Land. Frankfurt am Man: S. Fischer Verlag .  S., , € Meisterhafter Minimalismus In Peter Stamms »Weit über das Land« flüchtet ein Familienvater in die Wälder

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