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Logbuch_2016

Tanya Lieske: Ein Sommernachtstraum; Mehrnousch Zaeri-Esfahani: 33 Bogen und ein Teehaus

»33 Bogen und ein Teehaus« – der poetische Ti­ tel dieses Buches bezieht sich auf eine Brücke in Is­ fahan, es handelt sich um »Si­e­Se­ Pol«, die Dreiund­ dreißig­Bogen­ Brücke. Die Brücke war frü­ her der Lieblings­ platz von Mehrnousch Zaeri­Esfahani, die mit ihren drei Geschwistern im Iran der siebziger Jahre auf­ wächst. Als Kind erlebt sie die Vertreibung des Schahs. »Für mich war die Revolution wie die Zeit, wenn meine Brüder Sommerferien hatten«, schreibt sie. Aber als Ayatollah Chomeini an die Macht kommt, errichtet er die Hölle im Iran. Mehrnousch muss ein Kopftuch tragen, kein ein­ ziges Haar darf herausgucken, Menschen werden entführt und geschlagen, in der Schule begeistert man die Jungen für Waffen, die Zwölfjährigen werden als Kanonenfutter über die Kriegsfelder geschickt. Und alles ist plötzlich verboten: welt­ liche Musik, Spielen, Tanzen, Rennen, Verliebtsein, Schminken. Schwermut zieht in das Land. Und Mehrnousch lernt das Lügen. Damit der älteste Bruder kein Kindersoldat werden muss, flüchtet die Familie in die Türkei und von dort über die ost­ deutsche Botschaft in die DDR. Hier schiebt man Flüchtlinge sofort in den Westen ab. Damit will die DDR die BRD ärgern, die sich verpflichtet hat, Flüchtlinge aufzunehmen. Es folgen Aufenthalte in Flüchtlingsheimen in West­Berlin, Karlsruhe und schließlich ein schwieriger Neubeginn in Heidelberg. Mehrnousch Zaeri­Esfahani erzählt ihre eigene Geschichte, ganz nüchtern und stringent – und doch klebt man an ihren Lippen. Die Autorin hat nichts von dem, was sie als Kind gefühlt hat, ver­ gessen. Mit ruhigen, eindringlichen Worten macht sie begreiflich, was es heißt, immer wieder die Zelte abzubrechen, nichts zu verstehen, beschimpft zu werden, ohne Perspektive zu sein. »Ich spürte mit einem Mal, dass wir für die Länder, in die wir einreisten, nur Ärger bedeuteten und dass uns niemand haben wollte.« Selbst die Katastrophe Tschernobyl ist damals nicht schrecklich genug, um den Schrecken des eigenen Schicksals zu übertönen. Trotzdem erdrückt ihre Geschichte nicht, son­ dern macht Mut. Heute ist Mehrnousch Zaeri­ Esfahani Referentin für ehrenamtliche Flücht­ lingsbegleitung. 2002 gewann sie den Demo­ kratiepreis des Deutschen Bundestages, 2012 erhielt sie den Innovationspreis der Diakonie Baden für den Aufbau eines kostenlosen Dol­ metscher­Pools. Ihr Bruder Mehrdad Zaeri­ Esfahani hat das Buch illustriert. JUDITH BURGER ▶ Mehrnousch Zaeri-Esfahani: 33 Bogen und ein Teehaus. Wuppertal: Peter Hammer Verlag .  S., , €, ab  J. www.kreuzer-leipzig.de | KINDER UND JUGEND 60 Eine Lemniskate ist eine schleifenförmige Kurve, wie eine Acht. Wenn man mit dem Finger auf ihr entlangfährt, geht es mal rechts, mal links he­ rum, der Weg aber bleibt unendlich. Auf das Leben übertragen, bedeutet dieses Prinzip: Es ist immer im Fluss, immer in Bewegung. Im Roman »Som­ mernachtstraum« sind den einzelnen Kapiteln kleine Verse vorangestellt, die als Lemniskate be­ titelt werden. Goofy, eine Figur aus dem Roman, hat sie gedichtet. Sie beschreiben das »Myste­ rium seiner Existenz«. Darin liegt wohl die große Hoffnung für Fünfzehnjährige, um die es hier geht und die sich in einer der schlimmeren Phasen der Pubertät befinden: Alles dreht sich weiter, einmal in die eine und dann in die andere Rich­ tung – wie im »Sommernachtstraum«. »Die Pubertät ist ein unbekanntes Land. Undurch­ dringlich wie der Wald bei Shakespeare«, sagt der beliebte Englischlehrer Ben Zimmermann. Für das Jubiläum des Elite­Gymnasiums St. Hubertus probt er mit der 9c den »Sommernachtstraum«, denn »Neunte Klassen sind etwas Besonderes«. Nach und nach entfalten sich die privaten Katast­ rophen der einzelnen Schüler, die sie zu Hause, psychisch und physisch sowie im alltäglichen Mit­ einander durchleben. Die Arbeit am Shakespeare­ Text während des Theaterprojekts entfesselt bei ihnen jedoch Kraft, Mut und Hoffnung. Und na­ türlich gerät der Liebesreigen während der Pro­ benarbeit ordentlich durcheinander – nicht nur bei den Schülern. Auch die Beziehungsprobleme von Lehrer Zimmermann serviert Tanya Lieske auf Augenhöhe ihrer jugendlichen Leser. Lieske erzählt die Geschichten ihres Ensembles aus Schülern, Lehrern und Eltern in knappen Sze­ nen. Charaktere entstehen zunächst reißbrettartig und sind auch nicht immer frei von Klischees. Es braucht eine Weile, bis die Geschichte ihre Leser einverleibt. Trotz der Knappheit entwickelt die Erzählung im Laufe des Geschehens dann eine un­ erwartet emotionale Wucht, die unter anderem in einer wunderbar ro­ mantischen Kussszene gipfelt – absolut kitschfrei. Shakespeare, der 2016 seinen 500. Todestag fei­ ert, hat auch der Jugend von heute etwas zu sagen. Im Roman kommt er übrigens selbst zu Wort, in­ dem er das Geschehen in Fußnoten kommentiert. Jedoch bleiben diese Einwürfe oft etwas kryptisch. JUDITH BURGER ▶ Tanya Lieske: Ein Sommernachtstraum. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag . 33 S., , €, ab  J. Pubertät als Shakespeare-Drama Schüler proben den »Sommernachtstraum«, und nichts bleibt, wie es war »Niemand wollte uns haben« »33 Bogen und ein Teehaus«: Wie eine Familie aus dem Iran flüchtet »Öffne Deine Adern nicht, Günderödchen, ich will Dir sie aufbeißen.« Clemens Brentano an Karoline von Günderode »Öffne Deine Adern nicht, Günderödchen, ich will Dir sie aufbeißen.« Clemens Brentano an Karoline von GünderodeClemens Brentano an Karoline von Günderode

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