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Logbuch_2016 - Letzte Seite

Brauchen wir mehr Buch? Nein, es reicht. Eine Wutrede

www.kreuzer-leipzig.de | LETZTE SEITE 82 Alternative gefällig? Brauchen wir mehr Buch? Nein, es reicht! Eine Wutrede Unser Praktikant Sascha hat es nicht so mit Bü- chern, und die Buchmesse fällt ihm gewaltig auf die Nerven. Für diejenigen, denen es ähnlich geht, hat er sich ein paar Tipps ausgedacht, wie man dem Messetrubel ausweichen und das Le- sefest boykottieren kann. Entsetzt und traumatisiert stehen sie vorm Café Grundmann: die Nicht-Lesenden, das Publi­ kum der unzähligen Hochglanz-TV-Dauerpräpa­ rate, wie Germany's Next Kokstrottel, einmal rek­ tal eingeführt, unmöglich wieder zu entfernen, und diejenigen, die eigentlich das letzte Jahr vor­ gehabt hatten, ein Buch zu lesen, in die Hand zu nehmen, doch wenigstens an einem zu riechen, aber bei denen dann das vermeintliche und wirk­ lich zum Erbrechen führende »Aber« dazwischen- kam, und die sich jetzt am liebsten vor Scham verkriechen würden. So blicken sie durch die Fen­sterscheiben hinein in das warme, wohlige In­ nere, sehen einen Mann, ein Buch und fünfzig ­bis achtzig hochinteressierte Hörende, die bei ­jeder Pointe des gefeierten Schriftstellers in hyste­ rische Ektase verfallen. Dabei denken sich die draußen Stehenden, die Gesichter zu leidenden Grimassen verformt, einzig und allein: »Nicht schon wieder!« Doch schon wieder wird ihnen vorgeschrieben, sich mit Büchern zu beschäftigen und sich intel­ lektuell weiterzubilden. Schon wieder liegt über­ all das :logbuch aus und schon wieder will jeder noch so kleine Laden in Leipzig mit einer Veran­ staltung an der Leipziger Buchmesse teilnehmen. Um Himmelswillen, reichte es denn nicht, sich in der Schulzeit »Irrungen, Wirrungen«, »Faust I« bis »Episode 7« und die wirklich unsagbar schreck­ lichen Liebesleiden des jungen Werther reinge­ klotzt zu haben? Hat uns Fontane denn nicht schon genug die Gehirnwindungen mit »Effi Briest« zerfickt? Brauchen wir daher nun wirklich mehr Buch? Wir sagen: nein! Diese letzte :log- buch-Seite bietet Ihnen daher nun die Alternative. Wir sagen nicht mehr Buch, sondern weniger! Kommen Sie mit auf eine Reise in das buchlose Ambiente der Leipziger Kulturwelt. Halten Sie sich fern von Lesungen, intellektuellen Rezensen­ ten und pseudoartiger Erotisierung des geschrie­ benen Wortes. Folgen Sie unseren Tipps zum Boy­ kott der Leipziger Buchmesse 2016. Gehen Sie doch zum Beispiel mal in die Grü- nauer Welle. Die feucht-fröhliche Badelandschaft wird jedes noch so unliebsame Buch fernhalten. Rutschen Sie dort auf der eklatanten Wasserrut­ sche, bis die Arschbacken jucken, und naschen Sie zwischendurch leckeres Automatenessen, aber nur solange die alte Kiste nicht klemmt. Wer nicht baden mag, kann seine Kinder dennoch dort abgeben und seine Zeit im gepflegten »Joker Spielecasino« im Grünauer Zentrum, nämlich im »Allee Center«, verbringen. Drücken Sie in kon­ tinuierlichen Abständen auf die Starttasten der Suchtmaschinen und sehen Sie zu, wie Sie fast – aber auch nur fast – den Hauptgewinn mit nach Hause nehmen. Genug Grünau. Hin zum Abendprogramm. Ge­ nießen Sie doch die gesellige Stille in einer der kleinen alteingesessenen Eckkneipen Leipzigs. Sie wissen schon, welche wir meinen. Diese komischen schmalen Kneipen mit vergilbten Nikotintape­ ten, in denen drei Männer stundenlang am Tresen hocken, Bier trinken und alle halbe Stunde mal ein oder zwei maulende Worte wechseln: »Nee, nee, mir hamms ooch nich eefach«, »Na, da hasde rechd!« Zu langweilig? Na, dann ist vielleicht der Besuch bei der »Terrorgruppe« am 18. März im Werk 2 genau das Richtige. Mit ihrem neuen Album »Tier­ garten« und alten Songs wie »Inzest im Familien- grab« vergraulen sie in alter Punkmanier jede noch so intellektuelle Spaßbremse aus der ehe­ maligen Industrieanlage. Zu extravagant? Lieber doch etwas Natürliche­ res? Dann lassen Sie uns die Reise doch noch mit einer wahren Kostbarkeit ausklingen. Spazieren Sie doch mal durch den Auwald. Genießen Sie dort das Papier in seiner Urform ganz buchstaben­ los. Atmen Sie tief ein. Fühlen Sie sich frei. Ge­ nießen Sie die Augenblicke abseits der alltäglichen Hektik. Erleben Sie so eine bewusstseinserwei­ ternde Sauerstoffekstase. Zu sportlich? Sie wollen Ihren Inflationsspeck nicht unnötig in Gefahr bringen? Dann bieten wir Ihnen letztlich auch noch die Möglichkeit, sich in Ihren vier Wänden zu verkriechen, die Rolllä­ den runterzuziehen, Chips, Gummibärchen und Brause bereitzustellen und sich lautstark, 24 Stun­ den nonstop, das RTL-Programm reinzuballern. Garantiert ohne Buchrezension. SASCHA WINKELBAUER HENRYW.LAURISCH Ein letzter schauriger Spruch

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