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kreuzer_06_2015 - Film

Vom Strobo bis zum Morgengrauen: Sebastian Schipper wagte mit "Victoria" den längsten Spielfilm in einem Atemzug

030 Film 0615 Musik 036 Theater 044 Literatur 054 Kunst 058 Spiel 065 Termine 070 Oft liest man, dass Filme einen Sog entwickeln, dem sich keiner entziehen kann. »Victoria« von Sebastian Schipper geht darüber hinaus: Er muss den Sog nicht erst kreieren, sondern er ist von Anfang an dieser Sog. Atemlos und direkt erzählt der Film von einer Nacht in Berlin, in der die Spanierin Victoria (Laia Costa) vor einem Club eine Clique Berliner Jungs kennenlernt – Sonne (Frederick Lau), Boxer (Franz Rogowski), Blinker (Burak Yigit) und Fuß (Max Mauff). Spontan schließt sie sich ihnen an und lässt sich in den Strudel der Ereignisse fallen. Die vier Männer sind eine famose Außenseiter-Crew. Ihr Spiel aus ungelenken Zärtlichkeiten, Brülle- reien und jähen Eingeständnissen eigener Ver- letzlichkeit beherrschen sie auf den Punkt. Es nimmt einen sofort gefangen, ihnen bei ihren Ritualen zuzusehen. Ihr Zusammenspiel wirkt natürlich, sind doch alle Dialoge im Film impro- visiert. Auch das Wechselspiel zwischen Victo- ria und Sonne. Bei ihnen klickt es auf Anhieb und auch die Chemie zwischen Laia Costa und Frederick Lau stimmt. Es wird aber bis zum Morgengrauen dauern, bis sie sich endlich näherkommen. Die Zeit bis dahin ist ein schwebender Rausch- zustand. Mit einer sympathisch »hirnrissigen Ladung von übersteigertem Selbstbewusstsein« (Schipper) ist »Victoria« als Onetake gedreht, als eine Einstellung ohne Schnitt. Regisseure sollten sich beim Filmemachen vermehrt Gefahren ausliefern, sagt Schipper. Das Kino sehne sich zu sehr nach dem Perfekten. Dabei »wollen wir gar nicht unbedingt das Perfekte sehen, sondern den Drang, die Nähe zur Kata- strophe und die Aggression erleben. Manchmal habe ich das Gefühl, dass das Kino wie ein wohldressiertes Tier von der Streichelwiese geworden ist und seine Gefährlichkeit verliert.« Ein Dreh ohne Schnitt nimmt Gefahren in Kauf und besitzt klar die Herrschaft über den Film. Darüber hinaus betont Schipper jedoch, dass dieser Kunstgriff »gleichzeitig überhaupt nicht wichtig ist. Das Wichtige sind die Nuan- cen, die Hingabe und Konzentration zwischen den Schauspielern, die diese Art von Film ver- langt. Es geht nicht um den sportiven Ansatz mit dem Ziel Onetake, sondern es geht darum, dass mein Einflussbereich kleiner wird und der der Schauspieler größer.« Ähnlich bescheiden inszeniert Schipper jen- seits eines pompösen, produktionstechnisch- formalen Experiments, wie es etwa bei Alexander Sokurows »Russian Ark«, einem der bekanntes- ten Onetake-Filme, der Fall ist. Er hat (in Person seines unglaublichen Kameramanns Sturla Brandth Grøvlen) ein echtes Interesse, ohne Unterbrechung seinen Figuren zu folgen. Gleich Victoria, die an einer Stelle mit Nachdruck zu Sonnesagt:»Iwanttogowith you«,istdieKamera immer hinter allen her und mittendrin. Sie wird zum eigenen Charakter, erzählt von Eupho- rie und Taumel der Figuren, nimmt subtil deren Emotionalität auf und porträtiert pointiert die schicksalhafte Ausweglosigkeit der Gescheh- nisse. Der Modus der Kamera folgt der einer Kriegsberichterstattung, wenn sie bei Soldaten embedded ist, mit ihnen in Auseinanderset- zungen gerät, den Geschehnissen folgt und sie beim Eskalieren beobachtet. Es geht weniger um die Bilder als um das Erlebnis. Wenn es in den Schießereiszenen etwas unübersichtlich wird und keiner mehr weiß, wer von wo auf wen ballert, trägt gerade der visuelle Stil zur Inten- sität bei. Die Thrillerdramaturgie hält das Spannungsniveau bis zum Finale. Inhaltliche Subströmungen lassen sich bei solch einer überrumpelnden Film-Erfahrung leicht übersehen. Dabei brechen die Figuren ständig irgendwelche Regeln. Solidarisch halten schließlich alle zusammen im Entschluss des notwendigen Banküberfalls. Der ist eine Auf- lehnung gegen ein Law-and-Order-Regime, von dem sie in ihrer gesellschaftlichen Position als Gescheiterte sowieso dauerhaft verarscht wer- den. Dieser Umstand wird glücklicherweise weder romantisiert noch penetrant als sozial- politisches Statement in den Vordergrund gerückt. Dadurch allerdings, dass man beim Sehen den Ereignissen unmittelbar ausgeliefert ist, schafft die Echtzeit einen gemeinsamen physischen Erfahrungsraum von Filmfiguren und Zuschauenden im Saal; man hat wirklich das Gefühl, dass alle auf der Leinwand etwas durchlebt haben – noch viel mehr: Auch der Zuschauer war Teil dieser Erfahrung. »Victoria« ist ein grandios gelungenes Kinoereignis. Chapeau! STEPHAN LANGER ▶ »Victoria«: ab 11.6., Passage Kinos ▶ 6.6., 20 Uhr, Leipzig-Premiere mit Regisseur Sebastian Schippper Vom Strobo bis zum Morgengrauen Sebastian Schipper wagte mit »Victoria« den längsten Spielfilm in einem Atemzug »Regisseure sollten sich ­­Gefahren ausliefern« Den Finger am Abzug: Sonne und seine Droogs ziehen mit Victoria durch die Nacht senatorfilmverleih

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