Please activate JavaScript!
Please install Adobe Flash Player, click here for download

kreuzer_01_2016

"Forderungen an Gott": Zum Tod von Kurt Masur (1927–2015)

010 Kreuzfahrt 0116 Film 032 Spiel 038 Musik 040 Theater 048 Literatur 056 Kunst 060 Termine 072 Von Björn Achenbach Es sprach: Kurt Masur.« Als diese Worte am Abend des 9. Oktober 1989 aus dem Stadt- funk-Lautsprecher dringen und den Aufruf der »Leipziger Sechs« zur Gewaltlosigkeit beschlie- ßen, da ist dies der Moment, der schlagartig klar macht, dass jetzt etwas passieren wird, etwas Großes, das dieses Land unwiderruflich verän- dern wird. Denn gerade hatte zum ersten Mal eine namhafte DDR-Persönlichkeit den Staats­ oberen in aller Öffentlichkeit den Kampf ange- sagt. Gefühlt war es der Moment, in dem die Friedliche Revolution siegte. Masur kannten viele DDR-Bürger bis dahin nur aus dem Fernsehen. Alle Jahre wieder dirigierte er am Silvesterabend die Neunte. Ein Charak- terkopf der deutschen demokratischen Klassik, kein Oppositioneller. Und nun das. In den ent- scheidenden Tagen des Herbstes 89 tat er noch mehr: In einem ARD-Interview erklärte er, er schäme sich für diesen Staat. Und er öffnete sein Gewandhaus, diesen Tempel der Hochkultur, für Diskussionen über die Zukunft der Republik. Es war die Musik, die ihm, dem bis dahin gut situierten Staatskünstler, die Augen öffnete. Als Masur zu Ohren kam, dass in Leipzig Straßen- musiker verhaftet wurden, beschloss er zu han- deln. Vor Honecker hatte er keine Angst. Dem Staats- und Parteichef gegenüber sah er sich auf Augenhöhe; er hatte ihm schließlich schon den Neubau des Gewandhauses (1981 eröffnet) abge- trotzt. Der politische Ruhm wertete ihn als Künstler auf. Nicht, dass er das nötig gehabt hätte, aber befördert hat es seine Weltkarriere doch. Die New Yorker Philharmoniker holten ihn nach dem Mauerfall als Chefdirigenten an den Hudson. Auf dem Titel des New York Times Magazine prangte sein Foto, Manhattan kürte ihn zum »Maestro of the Moment«. Sie liebten diesen verbindlichen deutschen Riesen, der meinte, was er sagte, und ihren etwas verwöhnten Hoch- glanzklangkörper wieder auf Trab brachte. In Amerika ein Star, musste er in Leipzig plötzlich kämpfen: mit den Zumutungen der neuen Zeit, einer kulturfeindlichen Politik und sich selbst. Der Revolutionsheld von 89 erklärte sein Gewandhaus zur »Insel« und wollte nichts wis- sen von Medien, Marketing und Musikern, die auf ihre Rechte pochten. 1996 zerbrach seine 27 Jahre währende Ehe mit dem Gewandhaus­ orchester. Masur ging im Zorn. Am Augustus- platz atmete mancher auf. Beide Seiten konnten dennoch erstaunlich gut mit der Trennung leben: Leipzig angelte sich Blomstedt und später Chailly. Masur dirigierte fortan bevorzugt in New York, London und Paris. Nach Leipzig aber kehrte er immer wieder zurück, hier verbrachte er weiterhin die Hälfte seiner Zeit. Das Gewandhausorchester ernannte ihn zum Ehrenmitglied und Ehrendirigenten. Er selbst stufte die Leipziger Jahre als »Funda- ment meines künstlerischen Lebens« ein. Hier hat er studiert, hier sammelte er als junger Opernkapellmeister erste Erfahrungen, hier trug er vom Gewandhauspult aus den Ruf Leipzigs in die Welt. Brahms, Bruckner und Beethoven waren seine Götter, Mendelssohn sein großes Vorbild als Gewandhauskapellmeister, dessen Andenken er kämpferisch pflegte, Bachs »Kunst der Fuge« in der Nikolaikirche seiner Heimatstadt Brieg sein musikalisches Schlüsselerlebnis (als Zwölf- jähriger). Denn eigentlich wollte er ja Organist werden, was ihm wegen einer sich abzeich- nenden Missbildung seiner Finger jedoch ver- sagt bleiben sollte. Und dann hörte er im Som- mer 1943 Beethovens Neunte in der Breslauer Philharmonie. Das war der Urknall, der in ihm den Wunsch weckte, Dirigent zu werden. Im kreuzer-Interview zu seinem 80. Geburts- tag gab er ein anschauliches musikalisches Glaubensbekenntnis ab: »Beethoven war mein neuer Weg. Ich wollte Dirigent werden. Und ich spürte, dass bei Beethoven etwas existierte, was es auch bei Bach gab – die Vorstellung einer göttlichen Kraft. Wenn ich heute die Missa solemnis dirigiere, wird mir sehr klar, wie Beet­ hoven Gott als Partner ansieht und ihn sogar anspricht: Wenn du nicht zeigen kannst, dass du Gott bist – wie sollen wir an dich glauben? Es sind Forderungen an Gott, die bei Beethoven gestellt werden.« Darunter machte er es nicht, es war ihm heili- ger Ernst damit. Manche Musiker, mit denen er arbeitete und die seinen Ansprüchen nicht genügten, bekamen das schmerzlich zu spüren: »Seine künstlerische Besessenheit hat ihn gelegentlich so mitgerissen, dass er die Selbst- kontrolle zu verlieren schien«, sagt der ehe- malige 1. Konzertmeister Karl Suske in der 2002 erschienenen Biografie »Kurt Masur – Zeiten und Klänge«. Darauf angesprochen, gab Masur fünf Jahre später im kreuzer lächelnd zu Proto- koll: »Ja. Meine Reaktionen auf manche Fehler waren Überreaktionen, absolut. Weil meine Spannung Überspannung war. Dennoch haben wir eine sehr große Gemeinsamkeit erreicht.« Wohl wahr. Sie trug das altehrwürdige Orchester von Nikisch, Walter und Furtwängler durch die Jahrzehnte des Mangels. Masur pflegte und bewahrte den warmen »deutschen« Klang und sorgte mit Reisen und Tonträgern dafür, dass das Gewandhaus weiterhin mitspielte im Konzert der Großen. In seinen letzten Lebensjahren scheint der Weltbürger Kurt Masur eine Gelassenheit gewonnen zu haben, die ihm als Intendant und Orchesterleiter nicht immer eigen war. Nicht mehr in Amt und Würden, zumindest nicht in Leipzig, konnten die Wärme und Weichheit ­seiner Züge den Besucher seiner Villa in Leipzig- Leutzsch verblüffen. Dirigiert hat er – liebevoll begleitet von seiner Frau Tomoko – fast bis zum Ende, seiner fortschreitenden Parkinson-Erkran- kung und zwei Bühnenunfällen in Paris und Tel Aviv zum Trotz. Am 19. Dezember 2015 ist Kurt Masur im Alter von 88 Jahren gestorben. ▶ Der Autor Björn Achenbach war von 1995 bis 2009 Chefredakteur des kreuzer. Von 1991 bis 1994 arbeitete er als Pressesprecher des Gewandhauses und produzierte 1995 für den MDR das Radio-Feature »Ein Leipziger in Manhattan« über Kurt Masur. »Forderungen an Gott« Zum Tod von Kurt Masur (1927–2015) Spannung und Überspannung: Kurt Masur war Weltbürger, Revolutionsheld und künstlerisch Besessener GERTMOTHES

Seitenübersicht