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Logbuch_2016

www.kreuzer-leipzig.de 21 MAGAZIN | Vielleicht war es Koljas Verzweiflung, die mich anrührte, vielleicht ging alles so schnell, dass mir einfach die Kraft fehlte, die Kette der unglückli- chen Umstände, die seit dem ersten Kontakt mit Kolja in Gang gesetzt wurde, zu unterbrechen, vielleicht sollte alles auch genau so kommen. Mit unbeirrbarer Sicherheit lief Kolja, nachdem wir das Geld in Jetons getauscht hatten, an einen der Roulettetische. Und es blieb nicht einmal Zeit, die prachtvollen Spielsäle zu bewundern, die 1855 von Pariser Innenarchitekten und Künstlern ge- staltet worden waren und so reizende Namen trugen wie »Florentiner Saal« oder »Salon Pom- padour«. Wollte der hier jetzt ernsthaft einen auf Lek- türe machen? Am Roulettetisch? Kolja setzte sich unverzüglich an den Tisch und zog mich zu sich heran. Vielleicht, dachte ich, könnte man sich jetzt endlich kennenlernen, nicht umsonst nannte man dieses Casino früher Kon- versationshaus. So ein bisschen Konversation also, während man entspannt Roulette spielt, warum nicht? Ich wollte schon ansetzen, fragen: »Hast du schon Hail, Caesar gesehen?« oder »Sag mal, wie heißt du eigentlich?«, als Kolja in die Brust­ tasche seines Sakkos griff, ein Buch hervorholte und eine mit einem Eselsohr markierte Seite auf- schlug. Wollte der hier jetzt ernsthaft einen auf Lektüre machen? Am Roulettetisch? »Ich bitte, das Spiel zu machen!«, rief der Crou- pier. Und schon legte Kolja das Buch zur Seite und alle Jetons, die wir hatten, auf das Feld »Passe«, die Zahlenreihe von neunzehn bis einschließlich sechsunddreißig. Die Kugel rollte, »Nichts geht mehr«, rief der Croupier, dann machte es klack. »22«, rief der Croupier. »Wir haben gewonnen!«, rief ich. Aber Kolja schien mich nicht zu hören. Wie in Trance hatte ­ er die Jetons, die sich jetzt auf einem kleinen Haufen stapelten, bereits auf Rot geschoben! »Nichts geht mehr«, rief der Croupier, die Kugel rollte wieder, plötzlich drehte Kolja sich zu mir: »Und wenn wir verlieren?« Es klang, als ginge es um sein Leben. »Rouge!«, rief der Croupier, wir rissen die Arme nach oben, wir umarmten uns. Und dann begann das Fieber. Das Glück nahm kein Ende und das Leben schmeckte nach Champagner Die zwölf mittleren Zahlen, die zwölf ersten, Schwarz, Passe, Rot, Manque. Wir gewannen und gewannen und gewannen. Der prachtvolle Saal war ein einziges Stocken und Strömen, ein Starren und Blinzeln. Das Glück nahm kein Ende. Laute Stimmen und Lachen erhoben sich. »Bravo, bravo!«, rief man und klatschte sogar in die Hände. Ich schmiss die Jetons in die Höhe wie Ginger McKenna in Scorseses »Casino«, irgendjemand hatte »Oh Happy Day« von den Edwin Hawkins Singers aufgelegt, und Kolja sang lauthals mit, als hätte er nie etwas anderes gemacht, als glücklich zu sein. Alles war eine Nummer zu groß, einzig- artig und unheimlich. Schon lange war ich nicht mehr so kühn gewesen, das Leben schmeckte nach Champagner. Wir gewannen, bis der Roulette­ tisch, an dem wir saßen, schließen musste. »Wir haben die Bank gesprengt«, rief Kolja, er war be- trunken, und auch mir stieg der Alkohol langsam zu Kopf. »Los, Dostojewski, wir hauen ab«, ich hakte mich bei Kolja unter, wir wankten zum Aus­ gang, verloren massenweise Jetons, doch gerade als wir durch die Tür nach draußen wollten … »Na, ihr zwei Goldkinder, wohin denn so eilig?« Der Mann, der vor uns stand, trug einen Maß- anzug, eine Krawatte mit perfektem Knoten, einen hellen Trenchcoat, dunkle Lederschuhe, eine Ro- lex GMT-Master und eine Pilotenbrille. Derrick? Was machte denn der hier? Aber bevor ich mich fragen konnte, wie Horst Tappert nach seinem Ab- leben bei der Glücksspielkommission Baden-­ Baden gelandet war, fiel mein Blick auf die zwei finster dreinblickenden und vor allem äußerst durchtrainierten menschlichen Kampfhunde, die rechts und links von ihm standen. »Wir, wir …«, begann Kolja zu stottern. »Kommen Sie! Lassen Sie uns auf Ihren Gewinn anstoßen!« Derricks Stimme überschlug sich fast vor Freude. So kannten wir ihn gar nicht. Sein Büro hatte den Charme einer verwaisten Raststätte, deren einzige Lichtquelle das Nikotin- gelb der Vorhänge war. Er kam ohne Umschweife zur Sache, mit dem Lächeln einer Mutter, die ihre beiden Augensterne zu Bett bringt: »Es gibt keinen guten Grund, warum jemand stirbt, es gibt kei- nen schlechten Grund. Man stirbt. Egal wie. Man stirbt. Früher oder später. Ihr sterbt heute, aber wenn es euch beruhigt: Es wird keinen kratzen.« Irgendwo rasselten Ketten. Wahnsinn, dachte ich, mare-Autoren in Leipzig Stefan Moster liest aus Neringa oder Die andere Art der Heimkehr Donnerstag, 17.März 2016 18.30Uhr, Mädlervilla Ralf Sotscheck stellt sein neues Buch Mein Irland vor Freitag, 18.März 2016 19.30Uhr, Morrison’s Irish Pub Den mare-Verlag finden Sie auf der Leipziger Buchmesse in Halle 5, Stand H202 – und im Netz unter www.mare.de Jens Rosteck liest aus Brel – Der Mann, der eine Insel war Lesung mit Musik Freitag, 18.März 2016 19.30Uhr, Blüthner Klavierschule Samstag, 19.März 2016 15Uhr, Ring-Café Leipzig Sonntag, 20.März 2016 14Uhr, Ring-Café Leipzig ©MathiasBothor/Photoselection©JanWindszus©privat ANZEIGE Ebenfalls dem Glücksspiel nicht abgeneigt: F. M. Dostojewski

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