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Logbuch_2016

"Eine Kreuzung aus Hitchcock und Kafka": Ein Gespräch mit Reintje Gianotten und Victor Schiferli über niederländische und flämische Literatur

www.kreuzer-leipzig.de | MAGAZIN 26 Erst im Oktober werden Flandern und die ­Niederlande Gastland der Frankfurter Buch- messe sein. Allerdings werfen die Ereignisse schon ihre Schatten voraus, und bereits auf der Leipziger Messe wird die niederländische Lite­ ratur eine starke Präsenz zeigen. Wir sprachen mit Reintje Gianotten und Victor Schiferli vom »Nederlands Letterenfonds«, der sich für die Ver- breitung der niederländischen Literatur im In- und Ausland einsetzt, über die aktuelle Situation der niederländischen und flämischen Literatur und warum der deutsche Buchmarkt für die ­Niederländer so interessant ist. :logbuch: Was unterscheidet eigentlich die flämi­ sche von der niederländischen Literatur? REINTJE GIANOTTEN: Die niederländische Spra- che wird in den Niederlanden und in Flandern gesprochen, es gibt also ein einheitliches Sprach- gebiet: 16,5 Millionen Niederländer und 6,3 Mil­ lionen Flamen, die Brüsseler eingeschlossen. Die meisten Schriftsteller aus Flandern, zum Beispiel Dimitri Verhulst, Hugo Claus, Monika van Paemel oder Saskia de Coster, veröffentlichen allerdings ihre Bücher in den Niederlanden. Es hat Versu- che gegeben, mehr Literaturverlage in Flandern zu gründen, aber dafür ist der Markt wohl zu klein. Die flämischen Schriftsteller zeichnen sich durch einen einzigartig reichen Stil aus, der un­ gewöhnlich ist und voller Wörter steckt, die in unserem Niederländisch nicht oder anders ge- braucht werden. Auch die Thematik ist anders gelagert, es geht öfter um das harte Leben auf dem platten Land – etwas, das für niederländische Leser eher ungewohnt ist. Die flämischen Schrift- steller sind aber bei den niederländischen Le- sern, Verlegern und Kritikern sehr beliebt. Um- gekehrt ist das nicht so stark. Auch wenn wir dieselbe Sprache sprechen, scheinen das doch zwei verschiedene Welten zu sein, jede mit ihren besonderen Eigenheiten. :logbuch: Es wird ja viel internationale Literatur ins Deutsche übersetzt. Warum sollen wir uns ausge­ rechnet für die niederländische interessieren? GIANOTTEN: Keine leichte Frage. Ich versuche mal eine Antwort: Viele unserer Schriftsteller be- schränken sich, was die Handlungsorte ihrer ­Romane angeht, nicht so sehr auf die Niederlande – ganz abgesehen von denen, die früher in ande- ren Teilen unseres Königreichs, also meist Indone­ sien, gelebt haben wie Louis Couperus, Maria Dermoût, Hella Haasse oder Helga Ruebsamen. W. F. Hermans lässt seinen Roman »Nie mehr schlafen« in Norwegen spielen, Sander Kollaard »Stadium IV« in Schweden, andere Handlungs- orte sind England und die USA und so weiter. Viel- leicht steckt den deutschen Verlagen manchmal zu wenig Niederlande in den Büchern. Allerdings schreiben gerade einige unserer bedeutendsten Schriftsteller über die kleine niederländische Welt mit ihren Eigentümlichkeiten, etwa Nescio, der Salinger der niederländischen Literatur, oder Theo Thijssen, dessen Klassiker »Kees de jongen« im alten Amsterdamer Stadtteil Jordaan spielt. Schließlich J. J. Voskuil, der »Das Büro«, einen gan- zen Romanzyklus, sieben dicke Bände, über die täglichen Begebenheiten in einem volkskundli- chen Institut in Amsterdam geschrieben hat. :logbuch: Einer der wichtigsten und, wie ich finde, lesenswertesten niederländischen Nachkriegs­ autoren ist Willem Frederik Hermans … VICTOR SCHIFERLI: Ich bin auch ein großer Fan von Hermans, obwohl nicht alle seine Romane gleich stark sind und er in seiner späteren Periode auch Bücher geschrieben hat, die eher enttäusch- ten, und ganze Wagenladungen an Essays und Zeitungsartikeln. Aber wer als Achtzehnjähriger »Die Dunkelkammer des Damokles« liest – und das sind in den Niederlanden viele gewesen – sieht sein Weltbild total umgestürzt. Ein Widerstands- kämpfer ist der Doppelgänger eines Nazi-Kolla- borateurs, eine geheimnisvolle, spannende Spio- nagegeschichte – eine Kreuzung aus Hitchcock und Kafka –, in der man die Jahre der Besetzung geradezu riechen kann. Hermans Erzählungen spielen immer auf mehreren Ebenen, psycholo- gisch, philosophisch, und zugleich haben sie den Plot eines Pageturners. :logbuch: Warum schrieb Hermans so viel über den Krieg? SCHIFERLI: Weil wir, so hätte er es wohl selbst ge- sagt, in Kriegszeiten alle Masken der Menschlich- keit ablegen, jeden Schein unserer sogenannten Zivilisation. Hermans war eine faszinierende ­Gestalt, er hatte mit jedem Streit, aber es heißt auch, dass er liebenswürdig und schüchtern war. Er hatte eine große Vorliebe für alte Schreibma- schinen, Fotografie, Naturkunde. Vor allem war er darauf versessen, Unrecht in der Welt aufzu­ decken, zum Beispiel dass der berühmte Professor Weinreb, der von vielen damaligen Intellektuel- len unterstützt wurde, in Wahrheit ein Verräter war, der Dutzende von Juden verraten hat [Der Hochschullehrer und jüdisch-chassidische Er- zähler Friedrich Weinreb (1910–1988) ist bis heute in den Niederlanden eine umstrittene Figur. Die einen halten ihn für einen Widerstandskämpfer, andere für einen Hochstapler und Landesverräter, »Eine Kreuzung aus Hitchcock und Kafka« Ein Gespräch mit Reintje Gianotten und Victor Schiferli über die ­niederländische und flämische Literatur »Die Buchmärkte der Nachbar­ länder sind enorm attraktiv« BEZIGE BIJ Mit jedem im Streit, aber liebenswürdig: Der große niederländische Schriftsteller W. F. Hermans (1921–1995)

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