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Logbuch_2016

Nora Gomringer: Ich bin doch nicht da, um Sie zu amüsieren; Reinhard Jirgl: Oben das Feuer, unten der Berg

www.kreuzer-leipzig.de | ROMANE 44 Nora Gomringer ist eine be­ gnadete Produzentin von Wortgut und Bühnenkunst, das ist bekannt. Doch sie ist auch mindestens ebenso begeister­ ter TV­Fan. »Ich sehe aus Über­ zeugung fern. Schon weil es nach Pionierarbeit klingt: fern sehen, um Dinge, Inseln, Menschen, Neues zu entdecken.« Dieses ist nur eines der Bekenntnisse in ihrem neuen Nicht­Gedichtband. Ein anderes: Sie sei ein »Snorkfräulein unbestimmbarer Pro­ venienz«, Hauptmerkmale: viel Schmuck und Kleidung, ein Abenteuerkamerad und stimmungs­ bedingtes Farbwechseln. »Snorkfröken«, so heißt die Mumin­Figur im schwedischen Original von Tove Jansson, sinniert über isländische Kultur­ Exportschlager, dichtet im Basketball­Jargon, be­ richtet von metasprachlichen bis sprachlosen Erfahrungen in Finnland und singt ein Loblied auf die behütende Wirkung von Gedichten. Die Kompilation »Ich bin doch nicht hier, um Sie zu amüsieren« erweckt den Eindruck, man säße selbst an Frau Gomringers Schreibtisch und stö­ bere in ihren Schubladen, was sich in den letzten Wochen und Monaten so an Manuskripten ange­ sammelt habe. Weshalb sonst würde man Reden zum 60. Jubiläum des Verbands der Literaturüber­ setzer, zum Neujahrsempfang einer Bamberger Basketballmannschaft und zum 1.100. Geburtstag der Stadt Kassel hintereinander weglesen? So lose die Sammlung wirken mag, gelungen ist sie allemal. Neben Essays und Reden enthält der Band auch die Prosa »Recherche«, für die Gom­ ringer 2015 mit dem Ingeborg­Bachmann­Preis ausgezeichnet wurde. Nora Gomringer versteht es, über alles und nichts profund und kohärent zu schreiben. Sie verbin­ det Gedanken über Freiheit, Sport, das Jungsein, die Filmlandschaft, fremde Sprachen und die Querelen des Autorendaseins. Und begeistert durch ihre virtuose Wortkunst, ohne je prätentiös zu wirken. Im Gegenteil, alles liest sich wunderbar ungekünstelt und zwanglos. Aber zugleich weiß Gomringer um die Tragik des Unterhaltungskünst­ lers. Der erschafft sich nämlich seine eigenen Suchtkranken – und die bleiben ihm nur so lange treu, wie er sie zuverlässig mit Lustigkeiten be­ liefert. Von Lieferzwang ist indessen bei Gomringer nichts zu spüren, jeder ihrer Sätze scheint un­ mittelbar der Freude am Formulieren und am ei­ genen Sprachfeuerwerk zu entspringen. Darum lässt sich auch verschmerzen, dass »Ich bin doch nicht hier, um Sie zu amüsieren« nicht, wie bei Voland & Quist sonst üblich, mit einer CD ausge­ stattet ist. LISA LENORT ▶ Nora Gomringer: Ich bin doch nicht hier, um Sie zu amüsieren. Dresden und Leipzig: Voland & Quist .  S., , € Reinhard Jirgl tritt dieser Tage zweifach als Autor hervor. Mit dem Essay »Die Arglosen im Inland« (in Tumult – Vierteljah- resschrift für Konsensstörung). Und mit einem neuen Roman: »Oben das Feuer, unten der Berg« handelt von Deutschem, Deutsch­Deutschem zumal, auch vom Krieg und der unmittelbaren Nachkriegszeit. Zwei Kripo­ Männer, darunter der Ich­Erzähler, spüren dem Schicksal der leiblichen Eltern Theresas nach, die erst als Erwachsene von ihrer Adoption erfährt. Ihre Eltern, aus bäuerlichen Familien stammend, wurden von der DDR enteignet und zu seelen­ loser Fabrikarbeit gezwungen, am Ende für lange Jahre aus politischen Gründen inhaftiert. The­ resa, die als Forscherin im Archiv eines wissen­ schaftlichen Instituts arbeitet, soll ebenso wie ihre Eltern den politischen Sturz erleben. Die Wende 1989, von Jirgl despektierlich nur »großer bürokratischer Umbau« genannt, befördert sie in den Keller des Archivs und bald in die Arbeits­ losigkeit. »Das Gestern ist auch morgen nicht zu Ende«, raunt die Verlagsankündigung wenig originell. Jirgls Gestern bedeutet zum Beispiel, eine Familie habe von Alters her einige Hektar Feld und Wald besessen. »Boden ihrer Vorfahren« heißt es an ei­ ner Stelle. Oder »Dasisnumalso« für das Verwach­ sensein eines jeden Menschen mit Ort und Land­ schaft der Geburt. Das aufs Gestern folgende Morgen: Der schnöde Anblick des enteigneten Grundes, wo in den Elternhäusern die Fremden wohnen, »Umsiedler« geheißen. Und die Gesich­ ter der Großstädterinnen, die bei Jirgl nur als androgyne vorkommen. Jirgl ist nach seinem Text über die arglosen In­ länder beschieden worden, ein Nationalkonser­ vativer zu sein. In Tumult wendet er sich gegen eine Analogie von aktuellen Migrationsbewegungen mit der Vertreibung 1945. Nach Martin Mosebach ist Reinhard Jirgl der zweite Büchner­Preisträger, der willkommenskulturell fremdelt. Und für die Flucht zwischen den beiden deutschen Staaten findet er zu Wendungen, die auch die aufneh­ mende Seite als Part eines miesen Geschäfts daste­ hen lässt: »SIE brauchten das Fleisch der­Flüchten­ den lebend«, über die Barbarei des SED­Regimes, den Freiheitsanspruch der eigenen Bürger zu va­ lutieren, sich vom Westen abkaufen zu lassen. Glück, heißt es an einer Stelle des Romans, müsse immer erfunden werden. Das Glück der Deut­ schen erfinden zu wollen, ist untunlich. Diese Un­ tunlichkeit scheint auf in den morphologischen Abweichungen der Jirgl’schen Bildung »eineganze=Nazion«. Das Implizierte liegt dem Textkörper auf. Wer »Nazion« sagt, der hat, eine Sprechsekunde zuvor, »Nazi« gesagt. Mit »Oben das Feuer, unten der Berg« legt Reinhard Jirgl eine fulminante DDR­ und Wendekritik vor, die auch um das Selbstverständnis der Deutschen kreist. JOHANN FELIX BALDIG ▶ Reinhard Jirgl: Oben das Feuer, unten der Berg. München: Hanser Verlag .  S., , € Snorkfräulein unbestimmbarer Provenienz Virtuos: Nora Gomringers »Ich bin doch nicht hier, um Sie zu amüsieren« »SIE brauchten das Fleisch der-Flüchtenden lebend« Fulminante Wendekritik: Reinhard Jirgls »Oben das Feuer, unten der Berg« »Mich soll nur wundern, wenn die beiden Huren zu- sammen kommen, um sich ihre Aventüren vorzuwerfen.« Goethe über Schillers »Maria Stuart« »Mich soll nur wundern, wenn die beiden Huren zu- sammen kommen, um sich ihre Aventüren vorzuwerfen.« Goethe über Schillers »Maria Stuart« Goethe über Schillers »Maria Stuart«

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