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Logbuch_2016

www.kreuzer-leipzig.de | MAGAZIN 22 was die sich alles einfallen lassen in der Erlebnis- gastronomie. Gleich würde Hape Kerkeling hin- ter einem der Mike-Tyson-Verschnitte hervor- springen, im Hasenkostüm und laut singen: »Das ganze Leben ist ein Spiel …« »Ihr seid Betrüger, ihr kommt von ganz unten, und ihr geht gleich wieder ganz runter. Einmal Kellerkind, immer Kellerkind.« Wo hatten sie denn den gecastet? »Wisst ihr: Es gibt grundlegende Regeln im Leben, die für jeden Menschen gelten sollten, auch in einem Casino, gerade in einem Casino. Aber ihr, ihr habt euch nicht daran gehalten.« »Entschuldigung …«, sagte Kolja, als habe er ge- rade aus Versehen jemanden angerempelt. »Entschuldigung?« Derrick lachte, plötzlich stell- ten sich mir die Nackenhaare auf und die Angst hauchte mich eiskalt an. Dieses Lachen kam direkt aus der Hölle. »Entschuldigung, das macht den Osterhasen auch nicht wieder lebendig! Du kleines Irrlicht. Was hast du denn gedacht? Dass du hier einfach rausspazieren kannst mit deinem Gewinn? Dass Sühne und Strafe abgesagt werden wegen Regen? Ausfallen wegen Bodennebel?« »Wir, wir …«, begann Kolja zu stottern, »haben nichts Falsches getan. Alle Zahlen stehen hier drin, im Roman meines Ururgroßvaters!« Er reichte unserem Gegenüber das Buch. »Dostojewski, so, so …« Derrick lächelte herab- lassend. »Wisst ihr, was der von mir hochver- ehrte Iwan Sergejewitsch Turgenjew über Dosto- jewski sagte?« Wir schüttelten beide den Kopf, artig wie zwei Vorschulkinder. »Er sei die neue rote Pustel auf der Nase der Literatur!« Turgenjew und Dostojewski hatten sich unge- fähr so lieb wie Marcel Reif und der BVB Gelangweilt zuckten Kolja und ich die Schultern, aber … Moment mal! Turgenjew! Dostojewski! Hastig drehten wir die Köpfe zueinander. Die hat- ten sich doch zu Lebzeiten ungefähr so lieb ge- habt wie Marcel Reif und die Südkurve im Dort- munder Westfalenstadion bei einem Heimspiel. Wir wollten etwas sagen, aber Derricks Gesichts- züge ähnelten jetzt gefrorenen, nicht asphaltier- ten Landstraßen irgendwo in der sibirischen Tundra. »Ich gebe euch Dostojewski-Groupies noch eine Chance: Ihr müsst verlieren. Wenn ihr nur einmal beim Roulette verliert, lasse ich euch gehen.« Wir sprangen auf wie die Hasen in der Duracell- Werbung, denen man gerade neue Batterien ein- gesetzt hatte, denn irgendwie war uns beiden klar geworden, dass wir möglicherweise Probleme ha- ben würden, weiter munter und lustig durch die Welt zu hüpfen, wenn das hier zu Ende wäre. Also hasteten wir zu den noch offenen Tischen und spielten – um unser Leben. Cheval oder Plein, riefen die Croupiers, denn wir setzten nur noch auf jene Wettarten, bei welchen die Chancen zu verlieren am größten waren. Doch egal, was wir taten: Wir gewannen und gewannen und gewannen. Das Unglück nahm kein Ende. Der zweite Roulettetisch schloss, der dritte, der vierte, eine gespenstische Stille legte sich über den ganzen Saal, und das Leben schmeckte plötz- lich nach nichts mehr. Wir waren im Casino in Baden-Baden und dazu verdammt zu gewinnen. Welcher Praktikant in der Schicksals-GmbH, Ab- teilung Risikomanagement, welcher für den Jah- resplan 2016 zuständige Trottel hatte sich das ausgedacht? Wir haben die Bank gesprengt Aber es hat keinen Sinn mehr, über das Wie und Warum nachzudenken. Wir liegen am Grunde ei- nes malerischen Flusses mit Betongewichten an den Gliedmaßen. Wir haben nicht mehr viel Zeit, eigentlich keine mehr. Ich würde gerne alles unge- schehen machen, noch mal von vorne anfangen. »Hast du schon Hail, Caesar gesehen?«, will ich Kolja fragen, aber mir fehlt die Kraft. »Wir haben die Bank gesprengt«, flüstert Kolja, seine Stimme ist schwach, aber Stolz schwingt darin mit. »Und Betongewichte an den Füßen!«, sage ich. Kolja nickt, sein Gesicht strahlt. »Das kann uns keiner mehr nehmen.« Der Mond legt für uns »Oh Happy Day« von den Edwin Hawkins Singers auf. Wir sehen uns an, dann lächeln wir ein letztes Mal und schließen die Augen. Es wird auch nie einer davon erfahren. MADELEINE PRAHS wurde 190 in Karl-Marx-Stadt geboren. Sie studierte Germanistik und Kunstgeschichte in München und Sankt Petersburg. 2014 erschien ihr vielbeachteter Roman »Nachbarn«. Sie lebt in Leipzig. Egal, was wir taten: Wir gewannen und gewannen Wo das Leben nach Champagner schmeckt: Roulettetisch im Casino A.SAVIN,WIKIMEDIACOMMONS

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