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Logbuch_2016

Die Buchbeschleuniger: Das Verhältnis von klassischen Medien, Bloggern und Verlagen differenziert sich neu aus

www.kreuzer-leipzig.de | MAGAZIN 30 Ist die Literaturkritik – mal wieder – in der Krise? Oder sind es nur die Medien, die sie verbreiten? Im letzten Sommer geisterte eine Debatte durchs Netz, die sich am Elend der Kritik und schrump- fenden Feuilletons abarbeitete. Harte Fakten lie- ferte Thierry Chervel, Mitgründer des Online-Kultur- portals »Perlentaucher«: Die Zahl der Buchkritiken in den vom »Perlentaucher« ausgewählten »Quali- tätszeitungen« hat sich von 4.330 im Jahr 2001 auf 2.200 im Jahr 2014 nahezu halbiert. Eine Statistik, die keinen medienwissenschaftlichen Anspruch erhebt, sich jedoch mit eigenen Beobachtungen deckt: Vorbei die Zeiten, da die FAZ mit zehn Feuil- letonseiten täglich glänzte; dass die Literaturseite der SZ heute oft zur Hälfte mit Todesanzeigen ge- füllt ist, will da schon symbolisch erscheinen. ­In Fahrt kam die Debatte durch einen Essay von Wolfram Schütte (»Über die Zukunft des Lesens«). Der langjährige Redakteur der Frankfurter Rund- schau, so etwas wie der »Elder Statesman« der deutschen Kritik, möchte das Schrumpfen der tra- ditionellen literarischen Öffentlichkeit durch eine Literaturzeitung im Internet kompensieren. Er plädiert für eine Vielfalt der Formen und ein »Finden ohne Suchen«, eine schweifende Bewe- gung, die er eher dem Zeitunglesen als der Blogo- sphäre zuschreibt, wo jeder in seiner Filterblase festsitzt. Doch: Hat sich die Zukunft der Literatur und des Lesens nicht längst schon ereignet? Ist ein digitales Imitat des einstigen Printprodukts wirklich zukunftsfähig? »Was im Printbereich seit Langem nicht mehr funktioniert«, so die freie Kritikerin Dana Buchzik, »wird nicht plötzlich neu erblühen, nur weil man es in den digitalen Raum zerrt und das Beste hofft.« »Ich bin nicht allein«, wusste Sieglinde Geisel, als die »Perlentaucher«-Debatte an Fahrt gewann. »Jetzt ist die Zeit reif.« Einen Ort des Austauschs zwischen klassischem Feuilleton und Blogo- sphäre hatte die in der Schweiz geborene Journa- listin schon lange vermisst: einen Ort des Ge- sprächs, an dem Platz für neue, netzaffine Formate ist – und an dem die Kriterien der Kritik trans­ parent gemacht werden. Geisel suchte und fand rasch Mitstreiter für ihr Projekt. Als der Name »Tell« im Raum stand, hatte sie allerdings Beden- ken: ein Schweizer Armbrustschütze und Frei- heitsheld als Gallionsfigur eines neuen Online- Magazins für Literaturkritik? Passt aber doch: »Unabhängig und treffsicher wollen wir auch sein.« Angenehm mehrdeutig ist der Titel zu- dem; im Englischen steht »to tell« für »erzählen«. Literatur war schon immer Herzenssache für Geisel, auch wenn sie nie im Zentrum des Kritik- betriebs stand: In den Neunzigern berichtete sie als Kulturkorrespondentin der NZZ aus New York, dann wechselte sie nach Berlin. Wer nicht bestän- dig den Neuerscheinungen der Saison hinterher- schreiben muss, registriert die Auswirkungen ­der digitalen Revolution womöglich genauer: »Die Zeit der Literaturpäpste ist vorbei, die Grenzen zwischen Autoren, Lesern und Kritikern erodie- ren.« Nach einem ersten Brainstorming in den Redaktionsräumen des Merkur trifft sich ein harter Kern von sechs Kollegen – Journalisten, Autoren, Übersetzer und Blogger – regelmäßig an ihrem Esszimmertisch im Prenzlauer Berg, um den Start von »Tell« vorzubereiten: Businessplan, Rechtsform, Webprogrammierung und Design – die Mühen der Ebene. Bislang ist »Tell« mit einer Teaser-Seite im Netz, spätestens zur Leipziger Buch- messe soll ein »digitaler Salon« online gehen. ­Lieber klein starten als endlos reden. »Was wir ma- chen«, sagt Geisel, »lebt ja von der Substanz. Die müssen wir bringen, sonst gehen wir zu Recht un- ter.« Um den Anschub zu stemmen, hat sich das Projekt unter anderem bei der Digital News Initi- ative von Google beworben; in den nächsten drei Jahren will der Konzern digitale journalistische Initiativen mit insgesamt 150 Millionen Euro för- dern. Idealerweise soll sich das Magazin indes durch Spenden der Leser finanzieren: »Wir ver- stehen uns als Debatten-Medium und wollen un- sere Inhalte nicht hinter einer Paywall verste- cken.« Letztlich steht in den Sternen, wie ein solch ehrgeiziges Projekt zu monetarisieren ist: Selbst reichweitenstarke Portale wie »Nachtkritik« oder »Perlentaucher« leben überwiegend vom Idealis- mus ihrer Macher. Auch für Geisel ist die Geld- frage letztlich sekundär: »Medienkrise? Ich will mir meine Lebenslust erhalten, statt an der sich breit machenden schlechten Laune mitzuarbei- ten. Selbst wenn wir finanziell scheitern sollten, wird es ›Tell‹ geben.« Die Buchbeschleuniger Rezensentendämmerung reloaded? In einem durch die digitale Revolution ver- größerten Hallraum der Bücher differenziert sich das Verhältnis von klassischen Medien, Bloggern und Verlagen neu aus Die Zeit der Literaturpäpste ist vorbei: Bloggertreffen beim Hanser Verlag HANSERVERLAG

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