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Logbuch_2016

Rudyard Kipling: Von Ozean zu Ozean; Emrah Serbes: Deliduman; Marie Malcovati: Nach allem, was ich beinahe für dich getan hätte

www.kreuzer-leipzig.de | ROMANE 42 Mut zur Novelle! Gut, Marie Malcovatis »Nach allem, was ich beinahe für dich getan hätte« wird als »Roman« eti­ kettiert. Aber sein Wesen bildet vielmehr jenes unerhörte er­ eignishafte Aufeinandertreffen, das die Kleinerzählung charak­ terisiert. Und in seiner Kürze entspricht er dieser ebenfalls. Kammerspiel im Transitraum: Im Basler Bahn­ hof kommen drei Existenzen zusammen. Polizist Marotti soll via Überwachungskamera Aktivisten einer Antikonsum­Guerilla aufspüren. Die tau­ chen nicht auf, weshalb seine Augen an einem selt­ samen Paar hängen bleiben. Zur sorgsam und ad­ rett gekleideten Lucy mit starrem Blick auf eine Alpenpanoramawerbung gesellt sich der ver­ schwitzte Simon. Warum trägt der eine antike römische Robe? Marotti ist verwirrt. Soll er ein­ greifen oder einfach zuschauen? Das ist seine Bahnhofsmission: Er entscheidet sich für den Beobachterposten. Vorerst. Kurze Rückblenden werfen Schlaglichter auf die Vergangenheit des glücklosen Zahnpasta­ gigantensohnes und der zielstrebigen Dolmet­ scherin, die ihr Privatleben unbekümmert vor sich hinplätschert lässt. Warum kehrt er High So­ ciety und Hygieneindustrie den Rücken? Welche Krankheit plagt ihre Familie? Genaues erfährt man nicht, streift als Leser eher die Szenerie und schnappt nur Biografie­Fetzen auf. Zugespitzt auf den Moment hat Malcovati den Plot entworfen. Nicht mit gedrechselten, aber mit schönen Sätzen skizziert sie die eigentümli­ che Dreiecksbeziehung der sich fremd bleiben­ den Menschen. Und doch ist diese Andeutung ei­ ner Begegnung berührend. Wie es für Nichtorte üblich ist, verweilt man einige Augenblicke bei den Wartenden – worauf warten die eigentlich? – und huscht dann weiter. Auf der Suche nach der nächsten Neuigkeit. TOBIAS PRÜWER ▶ Marie Malcovati: Nach allem, was ich beinahe für dich getan hätte. Hamburg: Edition Nautilus .  S.,  € Nichtort-Novelle Marie Malcovatis »Nach allem, was ich beinahe für dich getan hätte« Sommer 2013: Çagˇlar ist siebzehn. Während auf dem Taksim­Platz in Istan­ bul die türkische Gesell­ schaft gegen ihre Unterdrü­ ckung rebelliert, trägt er in der kleinen Hafenstadt Kıyıdere seinen eigenen Kampf aus. Die Mutter ist tablettenabhängig, der Vater nicht aufzufinden und der Onkel zwar Bürgermeister, aber ein »ver­ dammter Hund«. So bleibt Çagˇlar nichts übrig, als sich allein der schwierigen Aufgabe zu stellen, seiner neunjährigen Schwester Çigˇdem zu Welt­ ruhm zu verhelfen. Denn Çigˇdem tanzt, »als sei sie Jacko höchstpersönlich«, den Moonwalk. In sei­ nem neuesten Roman »Deliduman« erzählt Em­ rah Serbes, Star der jungen türkischen Literatur, mit der Stimme eines eigensinnigen Siebzehn­ jährigen von Familienstreitigkeiten, erster Liebe und dem Nachjagen großer Träume. Serbes ist nicht nur Bestsellerautor, sondern auch populäre Figur der Istanbuler Proteste vom Sommer 2013. Die politischen Geschehnisse der Türkei bilden die Rahmenhandlung von »Deliduman« und werden von dem Außenseiter Çagˇlar Stück für Stück erschlossen. Während in Istanbul Rauch­ granaten und Steine geworfen werden, interes­ siert sich niemand für die Moonwalk­tanzende Çigˇdem – es sei denn, sie tanzte im besetzten Gezi­ Park, vor den Wasserwerfern. Çigˇdem soll im »verrückten Rauch« der Granaten tanzen, »um die­ ser seelenlosen Welt ihre Seele zu schenken«. Ihre Idee führt Çigˇdem, Çagˇlar und seinen Freund Bazille in das Zentrum der türkischen Aufstände und an die Grenzen ihrer Freundschaft. In »Deli­ duman« beschreibt Serbes Çagˇlars Sommer und, ganz nebenbei, aber genauso tiefgründig, wütend und ironisch, eine neue türkische Generation, die wie Çagˇlar um ihre Selbstbestimmung, ihre Zukunft kämpft. MAJA MICK ▶ Emrah Serbes: Deliduman. Aus dem Türkischen von Selma Wels. Berlin: Binooki .  S.,  € Moonwalk im Gezi-Park In »Deliduman« erzählt Emrah Serbes vom Kampf junger Türken um ihre Zukunft Im Jahre 1887, Rudyard Kipling hatte sich be­ reits ersten Ruhm als Au­ tor durch Erzählungen und Gedichte erworben, fand er die Möglichkeit, sein Reisefieber zu finan­ zieren – ganz einfach, in­ dem er Reisereportagen und ­briefe schrieb. Sein Wechsel zur Zeitung The Pioneer in Allahabad er­ möglichte dies. Kipling macht sich in seinen Tex­ ten immer wieder über den Mann lustig, der, im Zug sitzend und aus dem Fenster schauend, sich ein genaues Bild des indischen Subkontinents machen zu können glaubt. Der von Alexander Pechmann glänzend übersetzte und kommen­ tierte Band, der zum ersten Mal mit der im deut­ schen Sprachraum nicht sonderlich bekannten Seite Kiplings ausführlich bekannt macht, führt den Leser nach den Reisen durch Indien noch nach Asien und in die USA. Kipling, bis heute jüngster aller Literaturnobel­ preisträger (1907), gelesen und verehrt wie kaum ein zweiter, musste gegen Ende seines Lebens den Absturz als Autor erleben. Bezeichnend das Dik­ tum George Orwells, Kipling sei Süßkram aus Kin­ dertagen. Es blieb die Rolle Kiplings als Posaunist des britischen Imperialismus. Aber so einfach liegen die Dinge eben nicht. Sicher, Kipling war in vielem Kind seiner Zeit, das glaubte, die Welt könne am britischen Wesen genesen. Kipling hatte für die Kolonien aber stets eine potenzielle Un­ abhängigkeit im Auge, und religiöse Toleranz war ihm selbstverständlich. Pechmann verbindet in größeren Essays die Rei­ sestationen Kiplings und zeichnet den Autor als einen manchmal durchaus wetterwendischen Cha­ rakter. In seinen Reisetexten jedoch bricht Kip­ ling zu unserem Glück immer wieder aus. Eine unbändige Lust am Entdecken des Nichtreprä­ sentativen, der Schattenseiten, Sympathie für die vom Leben Geschlagenen setzt sich immer wie­ der durch. Und dazu entpuppt er sich auch in die­ sen Alltagstexten als großer Stilist, einer, der jede Tonlage in jedweder Form sicher zu treffen weiß. Und damit trefflich unterhält. JÜRGEN LENTES ▶ Rudyard Kipling: Von Ozean zu Ozean. Unterwegs in Indien, Asien und Amerika. Aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von Alexander Pechmann. Hamburg: Mare Verlag .  S.,  € Unbändige Entdeckerlust In »Von Ozean zu Ozean« erweist sich Rudyard Kipling als großer Reisejournalist

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