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Logbuch_2015

www.kreuzer-leipzig.de | Magazin 24 Gut angebunden ist Calw an den öffentlichen Nahverkehr. Mit Bussen erreicht man zum Bei- spiel Weil der Stadt, den Geburtsort Johannes Keplers. Das Museum im Geburtshaus weitet aus engen Räumen den Blick ins Unendliche. Oder Herrenberg mit dem Glockenmuseum im Kirch- turm, wo man ganz neu über Schillers »Lied von der Glocke« nachdenken lernt. Uns DDR-Pennä- lern blieb das gottlob als Lernpensum erspart. Wir kannten immer nur die Kurzfassung »Loch gebuddelt, Erde rinn, hochgezogen, bim, bim, bim.« Oder Bad Wildbad mit den königlichen Thermen im maurischen Stil. In Neubulach ­führen Zwerge einen durch die Kupferminen ­tief in den Berg hinein. Nähert man sich der pitto­ resken Silhouette von Altensteig, glaubt man gern, dass hier der Adventskalender erfunden wurde. An Wochenenden empfiehlt sich genaues Stu- dium der Fahrpläne. Viele Routen werden nur an Schultagen bedient, nach Siehdichfür etwa ge- lange ich sonntags nur per pedes. Die Gleise der Kulturbahn, ins Felsgestein ge- trieben, führen südlich über Horb/Neckar bis ­Tübingen. In Hölderlins Turm herrscht Besucher­ flaute. Auch im Hesse-Kabinett, neben der Buch- handlung Heckenhauer, wo Hesse als Laden- schwengel saure Lehrlingstage verdöste, bin ich der einzige Besucher. So ging es mir oft in den liebevoll eingerichteten Erinnerungsstätten und kleinen Heimatmuseen. Selbst das Kloster Maul- bronn ist an einem sonnigen Septembertag nicht von Touristen überschwemmt. Nördlich von Calw stehen die Ruinen des ­Peter-&-Paul-Klosters Hirsau. Nach der Brand- schatzung durch die Franzosen in den Erbfolge- kriegen bedienten sich die Häuslebauer seiner als Steinbruch. Was übrigblieb, hat Caspar-­David- Friedrich-Qualitäten. Von hier ging ein Ruck durchs Land, erstmals konnten Laienbrüder am Klosterleben der Zisterzienser teilhaben. Das heißt, die schwersten Arbeiten wurden ihnen aufgebürdet. Zum Ausgleich durften sie ihre Bärte behalten. Als »Bärtlinge« kann man sie in Stein gemeißelt am einzigen erhaltenen Turm der Basilika, dem sogenannten Eulenturm, be- staunen. Auch das Calwer Finanzamt fand das Gelände so reizvoll, dass es sich im Torhaus ­niederließ. Bahnanbindung gibt es nach Rottweil, der ältes- ten Stadt Württembergs. Um 70 n. Chr. siedelten die Römer am Neckar unterhalb der Schwäbi- schen Alb und nannten den Flecken Arae Flaviae. Später kamen die Rottweiler, die aber nur teil- weise wölfische Vorfahren haben. Der andere Teil frönte dem Mummenschanz, der als Rottwei- ler Fasenet zum bis heute gepflegten Brauch­tum gehört. Wären noch die kombinierten Fahrten. Mit ­Bus & Bahn gelangt, wer sich von Anschlusspannen oder Streiks nicht entmutigen lässt, nach Haiger- loch an der Eyach, wo das einzige deutsche Atom- museum im einstigen Bierkeller des Schlosses das Modell des ersten funktionsfähigen Atomre- aktors von Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker 1944 zeigt. Als Chronologie des Grau- ens liest sich die Zeittafel, die den Wettlauf um die Atombombe dokumentiert. Haigerloch hatte bis 1938 eine große jüdische Gemeinde. Ihren Spuren bis hin zur Auslöschung folgt die Ausstel- lung in der restaurierten Synagoge, und etwas versteckt liegt der jüdische Friedhof mit schiefen, von Flechten und Moos überwucherten Steinen. Ebenfalls über Piste & Schienenstrang lassen sich die Weinstädte rund um Stuttgart gut erkunden. Ob auf Dichters Pfaden oder auf Schlössertour: an Ludwigsburg, Leonberg, Esslingen, Solitude, Bad Cannstatt kommt kein Stuttgartbesucher vorbei. Und da hat man erst ein Bruchteil von ­allem gesehen. Marbach mit dem Deutschen ­Literatur-Archiv, dem Schillermuseum und Mu- seum für Moderne Literatur verdiente allein ­einen Extra-Artikel. Jeden Abend kehrte ich um einiges klüger und um einige hundert Digitalfotos reicher nach Calw zurück. Oft spazierte ich dann abends über die Nikolausbrücke mit der gotischen Brückenkapel­le, auf der seit 2002 lebensgroß der bronzene Her- mann Hesse, den Hut in der Hand, auf seine Stadt schaut. Kaum standen wir einander Aug in Aug gegenüber, schon begann er mich zu examinie- ren. »Und, beim Zeller, beim Uhland, beim Mörike bischt noch net gewese?« So scheuchte er mich von Ort zu Ort, von Denkmal zu Denkmal, zu Ge- burtshäusern, Heimatstuben und alten Latein- schulen. Erst am letzten Tag, unter grau verhan- genem Novemberhimmel, gönnte er mir eine Verschnaufpause im Stadtgarten, den die Calwer mit seinen Gedichten auf Aluminium­tafeln hübsch dekoriert haben. Er ließ sogar meine Einwände gelten, meinte, dass ihm selbst man- ches davon heute peinlich sei. Aber das wolle er gern aushalten, da er lange genug auf seine Heim­kehr habe warten müssen. THOMAS BÖHME »Beim Mörike bischt ­ net gewese?« ThomasBöhme

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