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Logbuch_2015

"Alles ist jetzt" Julia Wolf; "Der dunkle Fluss" Chigozie Obioma

www.kreuzer-leipzig.de36 | Bücher Tragödie mit Ansage: Böse und gefährlich ist »der dunkle Fluss«, das haben die Eltern Benjamin und seinen Brüdern im- mer wieder eingebläut. Sich ihm zu nähern, bringt Unglück. Als der Vater aber berufsbedingt in eine 1.000 Kilometer entfernte Stadt ziehen muss, sind alle Warnun- gen verflogen. Die Brüder fischen im Gewässer, das schlimme Schicksal nimmt seinen Lauf. Chi- gozie Obiomas Roman liest sich wie eine antike Tragödie, die ins Nigeria der neunziger Jahre ver- legt wurde. So sehr sich die Figuren auch mühen – ihrem angekündigten, scheinbar vorbestimm- ten Los können sie nicht entkommen. Patriarchat und Familienbande, tief verwurzelter Glauben und feste Ehrvorstellungen bilden ein Geflecht, an dem sich die Figuren ins Unvermeidliche ent- langhangeln. Kraftvoll und in zurückhaltender Sprache entwickelt Obioma den fatalen Lauf. Ge- rade seine klare Ausdrucksfähigkeit lässt die von Bibeltreuen, christlichen Sektierern und einem verrückten Propheten bevölkerte Geschichte noch seltsamer wirken, in die auch Volksmythen als Reminiszenz an die Vergangenheit eingewebt sind. Wie ein Totemtier wird jedem Protagonis- ten im Verlauf des Romans ein Lebewesen – vom Adler bis zum Pilz – gegenübergestellt, das seinem Wesen gleicht. Diese Charakterisierung verstärkt den Eindruck einer Fabel noch, welcher mit den immer wieder angerissenen politischen Verhält- nissen und den wie selbstverständlich ablaufen- den gewalttätigen Konflikten zwischen verschie- denen Ethnien kollidiert. Ferne Lebens- und teilweise rätselhafte Gedankenwelten entfalten sich im beeindruckenden Debüt, das ohne Spu- ren voyeuristischen Exotismus auskommt. Die Lektüre ist lebendig, gerade weil nicht das große Andere, das bunte oder vitale Afrika bemüht wird. TOBiAS PrüWer ▶ Chigozie Obioma: Der dunkle Fluss. Übersetzt von Nicolai von Schweder-Schreiner. Berlin: Aufbau Verlag 21. 313 S., 1, € Nigerianische Tragödie »Der dunkle Fluss«: Chigozie Obioma verlegt die antike Tragödie nach Afrika Der Vater ein Ehebrecher, die Mutter eine Säuferin und oft wochenlang nicht zu Hause, der Bruder schon früh am Kiffen: Ingrids Lebens- start scheint ein klassischer Fall von schwerer Kindheit. Sie er- lebt einige Lover und eine Alko- holvergiftung ihrer Mutter mit, trifft ihre smarte, aber hauptsächlich an Sex interessierte Jugendliebe wieder, wird schwan- ger und im selben Moment fallen gelassen, treibt ab. Schließlich findet sie sich hinter der Bar eines Puffs wieder. Das ist harter Stoff für eine einzelne Person, und eigentlich sollte einem all das Elend, das der Pro- tagonistin aus Julia Wolfs Debütroman »Alles ist jetzt« widerfährt, beim Lesen zumindest ein klei- nes Tränchen in die Augen treiben. Aber Empa- thie mit dem »halbseidenen Mädchen« will nicht recht aufkommen. Im Gegenteil, der Text gibt sich so betont distanziert, so gnadenlos kühl, dass die Geschichte eher übertrieben als anrührend wirkt. Das ist schade, denn Wolfs Roman hat mit seiner pointierten, stark reduzierten Sprache un- bestreitbar literarisches Potenzial, und einzelne Szenen, wie etwa die Schilderung einer peinlichen Toilettenbegebenheit in Hörweite der Jugendliebe, entwickeln in ihrer Kürze komische, tragische und voyeuristische Facetten zugleich. Insgesamt aber bleibt der Eindruck von Konstruiertheit, von gewollter Schicksalsschwere. Wolf lässt ihre Haupt- figur erbarmungslos schaulaufen, ohne ihr we- nigstens ein paar Empathiepunkte mitzugeben. Dass Ingrid ständig müde ist und den halben Ro- man über zu schlafen scheint, macht die Sache auch nicht besser. Selbst wenn das als Stilmittel genutzt wird – es nervt schon nach wenigen Seiten. Am Schluss überschreitet Ingrid eine letzte Gren- ze, lässt Menschen und Orte zurück, die ihr nicht gut taten – doch da ist es schon zu spät, um ehrlich berührt zu sein und ihr Glück für den Neuanfang zu wünschen. YVOnne FiedLer ▶ Julia Wolf: Alles ist jetzt. Frankfurt am Main: Frankfurter Verlagsanstalt 21. 1 S., 1, € Gnadenlos kühl Übertrieben statt anrührend: Julia Wolfs Romandebüt »Alles ist jetzt« gRiMM'SCHeR RAMSCH

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