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kreuzer_12_2016

Game & Fame: Stätten der Bewegung – die Turnhalle in der Leplaystraße; "Symbol für eine ganze Republik": Regisseur Sascha Schmidt über das Seelenleben eines Gebäudes

010 Kreuzfahrt 1216 Spiel 032 Film 034 Musik 040 Theater 050 Literatur 058 Kunst 062 Termine 084 Die Turnkunst ist die Poesie des Leibes« – so lautete das Motto vom Leipziger Stadtturn- wart Lion und es ziert das Heft zur Einweihung des Neubaus in der Leplaystraße 11. Fortschritt und Moderne sollte das Gebäude ausstrahlen und auf seinen Besitzer – den Allgemeinen Turnverein – abfärben. Dessen erste Turnhalle wurde 1863 eröffnet und als »größte und beste in Deutschland« gerühmt. Doch um 1910 sorgte sich der Verein, weil ein Mitgliederschwund drohte. Andere Vereine hat- ten prächtigere und vor allem moderne Bauten eröffnet. So fiel die Entscheidung für einen Neu- bau neben der historischen Halle an der Tur- nerstraße leicht. Der Leipziger Architekt Fritz Drechsler entwarf den Bau. Zuvor errichtete er das Künstlerhaus am Nikischplatz und das Rat- haus Schönefeld. Die Grundsteinlegung der ersten mehrstö- ckigen Turnhalle in Deutschland erfolgte 1912 in Anwesenheit des Leipziger Turnübervaters Ferdinand Goetz. Anlässlich des Turnfestes 1913 eröffnete die 5.000 qm große Halle. Im Keller waren die Umkleide- und Waschräume für Männer unter- gebracht. Im Erdgeschoss lagen der Frauen- und Mädchenturnsaal (520 qm) sowie der Kin- derturnsaal (400 qm). Das erste Stockwerk nahm der Männerturnsaal über eine Länge von 44, mit einer Breite von 22 bis 26 und einer Höhe von 13,5 Metern ein. Fast zehn Meter hohe Fenster sorgten für eine gute Tageslichtaus- leuchtung und an drei Seiten fanden sich frei- tragende Galerien. Alle Turnsäle verfügten zudem über elektrisches Licht sowie Fernspre- cher, die die Säle untereinander verbanden. Besonderen Wert legte man zur Eröffnung auch auf die Wasserklosetts. Geweiht wurde die Halle als »eine Burg der Liebe und Treue zu Kai- ser, König und Vaterland«. Das Leipziger Baukombinat baute das Gebäude Ende der sechziger Jahre um, um Vol- ley- und Handball, Hockey und Ringen nach neueren Maß­ stäben eine Heimat zu geben. Zum 100. Geburtstag fand eine Rundum-Sanierung statt. Heute sind hier die L.E. Volleys und der Kampfsport- und Fitness-Club Leipzig zu Hause; dessen Ringer-Abteilung bestreitet hier ihre Bundesligawettkämpfe, der nächste ist am 10. Dezember.BRITT SCHLEHAHN Vor neun Jahren wurden die drei Wohnblöcke am Brühl abgerissen, durchs Einkaufscenter Höfe am Brühl ersetzt. Sascha Schmidt beglei- tete den Abbruch und verarbeitet das Material nun zum Doku-Theaterstück. kreuzer: Wie kamen Sie auf das Thema Brühl? SASCHA SCHMIDT: Ich hatte ein Stück gemacht über eine Wohnmaschine, eine gescheiterte Wohnutopie der siebziger Jahre. Mich interes- siert, was Architektur mit Menschen macht. Ich hörte im Frühjahr 2007 vom Abriss in Leipzig, zog für ein halbes Jahr hierher, um einen Film darüber zu machen. kreuzer: Was war Besonderes an dem ­Brühl-Umbau? SCHMIDT: Der Abriss hat Wellen geschlagen. Es ging um die Haltung zur Vergangenheit und die Frage, in was für einer Stadt wir leben wollen. Die Häuser und das Leben darin waren für mich ein Mikrokosmos als Symbol für eine ganze Republik: die Aufbruchsstimmung der sechziger Jahre, als die Häuser gebaut wurden, bis hin zum Abriss und nun den Höfen. Dass an diesem Ort jetzt das Prinzip Shopping-Mall manifes­ tiert ist, spricht ja auch symbolisch für die heutige Zeit. kreuzer: Was passierte mit dem Film? SCHMIDT: Ihn wollte keiner haben. Es gibt nur das Rohmaterial, das wir uns jetzt noch ein- mal anschauten. Interessant ist zu sehen, was für Themen bis heute aktuell sind. kreuzer: Was wäre das? SCHMIDT: Die Haltung zum Politischen und zur DDR. Die Wut über das, was verschwunden ist. Durch den Abriss ist ja – ohne Wertung – ein Vakuum entstanden, wie auch mit dem Ver- schwinden der DDR. Jeder versucht, das auf seine Weise zu füllen. Sich verstärkende Wut, Hoffnung oder entstandene Leere führen als Momente direkt in die Gegenwart. kreuzer: Wie erlebten die Menschen den Verlust ihrer Wohnstätte? SCHMIDT: Es gab zwei Extreme. Ein Ehepaar nannte sie die besten Plattenbauten der DDR, die noch 100 Jahre hätten stehen können. Für sie bedeutete der Abriss, dass alles weggemacht werden sollte, was DDR war. Die andere Hal- tung verkörperte ein Paar, das sagte: Das war eben ein Schandfleck. Für sie war das immer nur Übergangslösung, sie zogen in ein Häus- chen im Grünen. Zwischen diesen Polen sind die vielen Geschichten und Haltungen der Menschen angesiedelt. kreuzer: Wie bringen Sie den Stoff auf die Bühne? SCHMIDT: Wir nutzen natürlich Filmmate- rial, etwa der Moment, wenn die Schrift »Will- kommen in Leipzig« runtersegelt. Die Inter- views haben wir verdichtet zu Monologen und Figuren, in die zwei Schauspieler schlüpfen. Eine Geschichte: Ich traf damals einen Mann, der zu DDR-Zeiten im Haus wohnte, 1990 in den Westen ging. Dort ist er nicht klargekommen, bekam anhaltenden Schluckauf. Er zog wieder hierher, in die Häuser. Vielleicht mit der Hoff- nung, der Schluckauf gehe wieder weg. Aber der ist geblieben. Als ich ihn traf, hatte er 17 Jahre lang Schluckauf. INTERVIEW: TOBIAS PRÜWER ▶ »Am Brühl«: 15./16.12., 20 Uhr, Cammerspiele »Symbol für eine ganze Republik« »Am Brühl. Ein Abriss«: Regisseur Sascha Schmidt über das Seelenleben eines Gebäudes Prinzip Shopping-Mall: Schmidt vor Brühl-Projektion SASCHA SCHMIDT Leipzig hat als Sportstadt einiges zu bieten. Eine kreuzer-Serie stellt Stätten der Bewegung vor. Im Dezember:­ Leplaystraße 11 (L.E. Volleys, Kampf­ sport- und Fitness-Club Leipzig) Groß und stolz: Die erste mehrstöckige Turnhalle in Deutschland HENRY W. LAURISCH

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