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kreuzer_12_2016 - Kinder & Familie

"Wir verschenken viel Potenzial": Viele Menschen wissen nicht, dass schon kleine Kinder an Depressionen erkranken können

068 Kinder & Familie 1216 Spiel 032 Film 034 Musik 040 Theater 050 Literatur 058 Kunst 062 Termine 084 Etwa zwei Prozent aller Kinder leiden an Depressionen. Kai von Klitzing ist Direktor der Leipziger Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie. 36 Plätze für die statio- näre und zehn für die tagesklinische Behand- lung junger Patienten gibt es in der Klinik. Für viele Menschen sind psychische Erkrankungen immer noch ein Tabu-Thema. Dabei ist Reden so wichtig, mahnt von Klitzing – auch über Kinder mit Depression. kreuzer: Herr von Klitzing, wie äußert sich eine ­ Depression bei Kindern? KAI VON KLITZING: Wenn depressive Klein- kinder spielen, thematisieren sie Sterben, Tod und Unglück. Andere haben gar keine Lust zu spielen. Sie kapseln sich ab. Ältere Kinder verlie- ren die Lust an Hobbys, schulischer Aktivität oder Freunden. Hinzu kommen Ängste, Schlaf- störungen, Stimmungsschwankungen und ­ verringerter Appetit. kreuzer: Wie sollte man sich als Elternteil verhal- ten, wenn man Symptome bemerkt? KLITZING: Wichtig ist, sich Zeit für das Kind zu nehmen. Es gilt, herauszufinden, ob irgendet- was in seinem Leben Anlass zur Sorge gibt. Hat es Ärger mit Lehrern oder Mitschülern? Fühlt es sich überfordert? Macht es sich Sorgen um die Gesundheit der Eltern? Wenn man merkt, dass es keine konkreten Probleme gibt oder sich das Kind wenig öffnet, sollte man Hilfe suchen. kreuzer: An wen kann man sich wenden? KLITZING: Entweder an einen Kinderarzt, der aber nicht immer Erfahrung mit dem Krank- heitsbild hat. Oder an einen Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Wichtig ist, dem Kind gegenüber offen zu sein. Es sollte lernen, dass es Ärzte für körperliche und andere für seelische Schmerzen gibt. Und dass all das keine Schande ist. kreuzer: Wieso bekommen Kinder Depressionen? KLITZING: Meistens kommen genetische Risiken und psychosoziale Belastungen zusam- men. Wenn Familienangehörige unter Depres- sionen leiden, ist das Risiko beim Kind erhöht. Es gibt auch andere Risikofaktoren wie Konflikte, fehlende Unterstützung, Traumata oder Kindes- misshandlung. Oft erkranken besonders sensi- ble Kinder. Solche, die Beziehungsprobleme stark wahrnehmen und sich verantwortlich fühlen – zum Beispiel, wenn die Eltern eine partnerschaft- liche Krise durchleben. Mädchen, die sich im Kindergarten immer um andere kümmern, tun das oft auf Kosten des eigenen Selbst. kreuzer: Wie sieht die Therapie aus? KLITZING: Die Behandlung erfolgt in der Regel ambulant. Eine Trennung vom gewohnten Beziehungsgefüge kann die Situation der Kinder erschweren. Stationär nehmen wir Kinder nur auf, wenn die Symptome schwerwiegend sind und Selbsttötungsgefahren vorliegen. Oder wenn wir sehen, dass die Eltern keine Zeit für ihr Kind haben. In der Klinik werden die Kinder in Gruppen Altersgleicher integriert. Es gibt einen strukturierten Tagesablauf. Oft erleben sie erstmals, dass sich jemand intensiv um sie küm- mert. Jedes Kind hat eine pädagogisch-pflege- rische Bezugsperson und einen Arzt oder Psycho- logen als Therapeuten. Im Mittelpunkt steht die Psychotherapie, meist einzeln, aber auch in Gruppen. Die Kinder erhalten darüber hinaus Ergotherapie, Physiotherapie, Sporttherapie, Kunst- und Musiktherapie. Sie besuchen die kli- nikinterne Schule oder Vorschulgruppe. Wir erarbeiten individuelle Therapiekonzepte. Kin- der unter zwölf Jahren bekommen keine Medi- kamente gegen Depressionen. kreuzer: Welche Rolle spielen die Eltern bei alldem? KLITZING: Eine sehr wichtige. Sie können das Kind besuchen und werden in die Therapie ein- bezogen. Schwierig ist es, wenn sie denken, dass sie nicht mithelfen müssen. Manchmal erschüt- tert es uns, wie wenig Zeit manche Eltern für ihre Kinder haben, die unter einer erheblichen Krankheit leiden. Oftmals spüren wir auch, dass Menschen in unserer Gesellschaft psychi- sches Leiden nicht so ernst nehmen wie körper- liches Leid. kreuzer: Wie hoch sind die Erfolgschancen einer Therapie? KLITZING: Wenn die Eltern mit im Boot sind, geht es den Kindern im Laufe des Klinikaufent- haltes in der Regel besser. Sie entwickeln neue Perspektiven und werden hoffnungsfroher. Grundsätzlich sind Depressionen in allen Alters­ phasen gut behandelbar. Die größte Hürde besteht darin, dass sich depressive Menschen oft schämen. Bei kleinen Kindern wird zudem behauptet, dass sich solche seelischen Probleme auswachsen. Viele Studien zeigen jedoch: Dies ist nicht der Fall. Weil depressive Symptome meistens im weiteren Lebensverlauf wiederkeh- ren, raten wir, mit dem Hilfesuchen nicht lange zu zögern. kreuzer: Wie ergeht es Ihnen dabei? Nehmen Sie die Schicksale sehr mit? KLITZING: Ich persönlich liebe meine Tätigkeit sehr. Ich interessiere mich für Kinder – gerade dann, wenn ihre Entwicklung einen anderen Weg nimmt, als es bei den meisten Altersgenossen der Fall ist. Wie gesagt erkranken oft gerade besonders sensible Kinder – und die haben auch Stärken. Es macht mir großen Spaß, diese zu entdecken und den Kindern zu helfen, sich wie- der an ihnen zu freuen. Belastend finde ich, wenn ich sehe, dass die Umgebung nicht mit- zieht. Es ist wirklich sehr schade, dass Kinder in Sachsen schon ab dem zweiten Schuljahr einem erheblichen Leistungsdruck ausgesetzt sind. Man hat kein Vertrauen, dass ein Kind seine Fähigkeiten in seinem eigenen Tempo ent- wickelt. Kinder, die in ihrem Selbstvertrauen verletzlich sind und zu Ängsten neigen, können unter schulischem Druck sehr leiden. Wir ver- schenken gesellschaftlich gesehen viel Potenzial, denn Kinder können gerade in ihrer Sensibilität sehr wertvolle Mitglieder unserer Gesellschaft werden. INTERVIEW: THERESA HELLWIG »Wir verschenken viel Potenzial« Viele Menschen wissen nicht, dass schon kleine Kinder an Depressionen erkranken können »Menschen nehmen psychi- sches Leiden nicht so ernst« Kai von Klitzing, Leipziger Kinder- und Jugendpsychiater, ist erschüttert, wie wenig Zeit manche Eltern für ihre Kinder haben

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