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kreuzer_12_2016 - Literatur

Wohnzimmer statt Perfektion: Zuwachs in Leipzigs Lesebühnen-Szene – Die "Sanfte Eskalation"

058 Literatur 1216 Spiel 032 Film 034 Musik 040 Theater 050 Kunst 062 Termine 084 Na, das geht ja gut los. »Verdammt, das ist die alte Version!«, ruft Leonie Warnke, nach- dem sie die ersten drei Sätze ihres Textes vorge- tragen hat. Bei anderen Lesungen wäre das eine mittelschwere Katastrophe: Schamesröte auf den Wangen, mitleidige und entnervte Blicke aus dem Publikum. Bei der Lesebühne »Sanfte Eska- lation«, die im November ihre Premiere in der Moritzbastei feierte, ist es nahezu ein Glücksfall: Die Autorin findet die Panne genauso lustig wie die Zuschauer – und die Barriere zwischen Bühne und Publikum ist keine fünf Minuten nach Beginn der Lesung niedergerissen. Ein Erfolgsfaktor des Konzepts Lesebühne: Wer hier auf der Bühne steht, inszeniert sich nicht als literarisches Genie oder entrückte Dichterin, sondern gibt sich locker, uneitel, publikumsnah. Wenn es gut läuft, erlesen sich die meist monat- lich auftretenden Autorenensembles ein treues Stammpublikum. »Schkeuditzer Kreuz«, die dienstälteste Leipziger Lesebühne, zieht inzwi- schen regelmäßig bis zu 250 Zuhörer an. Ach ja: Und die, die da oben vorlesen, sind in aller Regel Männer. »Ich glaube, das ist eine allgemeine gesell- schaftliche Tendenz: dass Frauen erzählt wird, dass sie nicht die Eier haben – und auch nicht haben sollen –, sich auf eine Bühne zu stellen«, sagt Louise Kenn, Autorin der neu gegründeten Lesebühne, im Interview. »Dafür braucht man ein ziemliches Ego. Und das wird einem Mädchen nicht unbedingt mitgegeben.« Gemeinsam mit Leonie Warnke und Josefine Berkholz gehört sie zum festen Kern der rein weiblich besetzten Lesebühne, die ab jetzt monatlich stattfinden soll. Hinzu gesellen sich im Wechsel Katja Hofmann aus Halle und Svenja Gräfen aus Berlin sowie jedes Mal ein neuer Gast. In der ersten Hälfte der neunziger Jahre gebo- ren, sind alle drei seit längerer Zeit feste Bestand- teile der Leipziger Literaturszene: Warnke war 2014 sächsische Landesmeisterin und moderiert unter anderem den Slam in der Distillery. Kenn hat es nach nur zwei Jahren Slam-Teilnahme zur Leipziger Stadtmeisterin gebracht und ist nebenbei Mitglied einer anderen Lesebühne, »Kunstloses Brot«. Und Berkholz, die bereits mit 17 deutsche Vize-Meisterin im U20-Slam war, schließt derzeit ihr Studium am Deutschen Literaturinstitut ab. Bei so viel geballter Bühnenpräsenz überrascht es nicht, dass die MB-Veranstaltungstonne schon zur Premiere gut gefüllt ist. Kaum jemand ist über 30. Noch so ein Erfolgsfaktor von Lese- bühnen: Dass das Publikum die eigene Lebens- welt in den Texten wiedererkennt. Man geht nicht unbedingt zu einer Lesebühne, um einen Blick auf die Welt hinter dem Tellerrand zu werfen – eher schon, um die eigene Realität gespiegelt zu sehen. »Ich trinke gern und viel«, sagt Kenn – und das Publikum antwortet mit dieser speziellen Sorte Ich-auch-Applaus. Alle jung, alle bisschen faul, alle Internet. Texte aus der Themenpalette »Menschliches, Allzumensch- liches« dominieren den Abend: Steuererklä- rung, Beziehungsprobleme, Supermarkt. Und immer diese Mädchen, die in der Uni immer alles mit verschiedenfarbigen Markern anmalen! Aber eben auch Geschichten, die genauso all- täglich sind, aber viel seltener erzählt werden: über die Enttäuschung, dass man gerade schon wieder mit jemandem im Bett liegt, der keine Ahnung hat, was eine Klitoris ist. Über einen Frauenarzt, der sich erkundigt, wann man denn nun endlich mal mit dem Kinderkriegen anzu- fangen gedenke. »Für mich ist es normal, einen Text über Frauen zu schreiben, weil ich nun mal eine Frau bin«, sagt Warnke. »Texte werden sofort als feministisch wahrgenommen, sobald eine Frau mal sagt, wie es ist. Wenn Männer über ihre Lebenswelt schreiben, ist das einfach normal.« Und deswegen ist die »Sanfte Eskala- tion« auch keine »Frauen-Lesebühne«, die mit knuffigen Girl-Power-Slogans beworben wird. Sondern eine Veranstaltung, bei der fünf Per- sonen aus ihrem Leben erzählen – und zwar ziemlich selbstironisch, tempogeladen und sti- listisch abwechslungsreich. Während sich auf vielen Lesebühnen der schnoddrige Einheitsstil von Storytellern durchgesetzt hat, wird hier Vielstimmigkeit geboten: Warnkes Texte sind Punchline-Konglomerate, Pointe an Pointe, ohne Platz für große Erzählbögen. Berkholz per- formt metapherngeladene Spoken-Word-Lyrik, mit viel Gespür für Klang und Atmosphären. Und Kenn, eine klassische Storytellerin, macht sich minutenlang über sich selbst lustig, als sie plötzlich die Schlichtheit ihres ersten Satzes erkennt. Die Lesebühne soll ein Ort sein, wo die Autorinnen auch mal was ganz anderes auspro- bieren können, das nicht immer perfekt sein muss – »wie ein Wohnzimmer«, sagt Berkholz. Entsprechend gemütlich endet der Abend dann auch mit Pfeffi fürs Publikum – und dem gegenseitigen Versprechen, dass man sich von nun an monatlich sehen wird. »Wahrscheinlich«, sagt Warnke, »wird das Publikum am Anfang noch irgendwelche stereotype Gedanken haben. Aber wir hoffen, dass die Leute demnächst gar nicht mehr darüber nachdenken, dass eine rein weiblich besetzte Lesebühne eher ungewöhn- lich ist.« Schon passiert. CLARA EHRENWERTH ▶ Jeden zweiten Donnerstag im Monat, nächster Termin (mit Gastautorin Lea Sauer): 8.12., 20 Uhr, Ort wird noch bekanntgegeben Zuwachs in Leipzigs Lesebühnen-Szene: Die »Sanfte Eskalation« Bloß keine knuffigen Girl- Power-Slogans Wohnzimmer statt Perfektion Fünf Freundinnen sollt ihr sein: Josefine Berkholz, Leonie Warnke, Louise Kenn und Katja Hofmann (v. l. n. r.) lauschen Gastautorin Ninia LaGrande TIM WAGNER

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