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kreuzer_12_2016

Rezensionen: "Wenn du magst" von Helle Helle, "Freiheit und Verantwortung" von Wilhelm Genazino (Hg.), "Die Autobiografie Karls des IV" von Wolfgang F. Stammler (Hg.)

060 Literatur 1216 Spiel 032 Film 034 Musik 040 Theater 050 Kunst 062 Termine 084 Kaiser und Kosmopolit Wir können auch anders Alltagsspannungen Faszinierend: Die Autobiografie Karls IV. Der Sammelband » Thesen heute« regt Zu- und Widerspruch an »Wenn du magst«: Helle Helle hält sich erneut famos reduziert Mit Karl IV. (1316– 1374) tun sich deut- sche Historiker von jeher ein wenig schwer. Der Kaiser war ein hal- ber Tscheche mit fran- zösischer Erziehung und eher Feingeist als Haudegen; dem Reich soll er mehr geschadet als genützt haben. Erst mit Ferdinand Seibts Biografie »Karl IV. – Ein Kaiser in Europa« (1978) hat sich diese Ein- schätzung gewandelt, bisweilen sogar ins Gegen- teil verkehrt: Karl galt nun zuweilen als Vor- zeige-Europäer und Vater der Moderne. Wie dem auch sei, eine schillernde Persönlichkeit war er allemal. Der Kaiser beherrschte fünf Sprachen, gründete die Prager Universität und schuf mit der »Goldenen Bulle« eine Art Grundgesetz des Heiligen Römischen Reiches. Karl war ein frommer Christ, aber zugleich ein skrupelloser Pragmatiker. So schritt er nicht ein, als in Basel, Straßburg und anderswo die Juden, die unter seinem Schutz standen, ermordet wurden, und verdiente selbst an den Pogromen. Die Juden seines geliebten Königreichs Böhmen blieben allerdings unbehelligt. Wer sich für Karl IV. interessiert, kann sich auch an ihn persönlich wenden. Der Kaiser hat uns nämlich eine Auto- biografie hinterlassen, natürlich auf Latein. Gerade ist die »Vita Caroli Quarti« als wunder- schön gestaltete Ausgabe in der »Bibliothek historischer Denkwürdigkeiten« des Alcorde Verlags erschienen. Zugegeben, sie bietet keine leichte Kost. Das Buch umfasst nicht Karls ganzes Leben, enthält dafür lange politische Betrach- tungen und Bibelexegesen. Aber zusammen mit der ausführlichen Einleitung und der sorgfäl- tigen Kommentierung ist die »Vita« durchaus als erste Beschäftigung mit Leben und Persön- lichkeit Karls IV. geeignet. Auf jeden Fall erhalten wir einen faszinierenden Einblick in das Den- ken und Handeln dieses mittelalterlichen Kosmo- politen und Realpolitikers. OLAF SCHMIDT ▶ Die Autobiographie Karls IV. Vita Caroli Quarti. Einführung, Übersetzung und Kommentar von Eugen Hillenbrand. Herausgegeben von Wolfgang F. Stammler. Essen: Alcorde Verlag 201. 12 S.,  € Gut, der Nagel auf dem Cover ist ungeschickt platziert. Falls Luther seine Thesen überhaupt selbst an der Kirchen- tür angebracht hat, dann nicht mit einem Ham- mer, sondern mit mit- telalterlichem Tesa- Film. Aber okay, das ist lästerliche Stilkritik. Die im Buch versammelten »95 Thesen heute« sind eine Klolektüre für Anspruchsvolle. Das Blätterbuch zum Querlesen, herausgegeben von Schriftsteller Wilhelm Genazino, enthält vieler- lei Gedankenanstöße. Mehrere literarische und religiöse Institutionen haben diverse Intellek- tuelle und Künstler um Kurzbeiträge angefragt, die im Kern ums Diskussionsfeld Freiheit und Verantwortung kreisen. Zusätzlich wurden dazu schulische Schreibwerkstätten abgehalten. Leider gehen die literarischen Versuche und Reportagen der beteiligten Schüler im Buch unter, weil sie die Höhe wie Fallhöhe der anderen Beiträge nicht erreichen können. Herausgekommen ist ein vielseitiges Buch zu den Themenkomplexen »Staat und Gesell- schaft«, »Migration und Mobilität«, »Wirtschaft und Arbeit«, »Kunst und Medien« und »Reli- gion und Glaube«. Die Vielstimmigkeit der Auto- rinnen und Autoren ist die Stärke des Zu- und Widerspruch anregenden Buches: Jeder wird auch Streitbares für sich entdecken können. Dass etwa ausgerechnet Evelyn Finger, vielen Leipzigern noch aus dem Pauliner-Kirchen- streit durch ihre Zeit-Einmischungen pro Wieder- aufbau bekannt, zum Thema »Blasphemie und Toleranz« engagiert wird, gehört dazu. Sie arbeitet sich – oh Wunder – am Islam ab. Comics, Gedichte, Gestammel lockern das Feld der Beiträge auf, die im Grundtenor die Ermuti- gung zur Auseinandersetzung verfolgen. Es las- sen sich viele Selbstverständlichkeiten lesen, die derzeit leider nicht mehr so selbstverständ- lich sind – beispielsweise, dass man dazu bereit sein sollte, sich die Möglichkeit des eigenen Irrens einzugestehen. Daher kommt das Buch zur richtigen Zeit – nicht weil Luthers Thesen- anschlag sich demnächst jährt, sondern weil die Gegenwart zur Positionierung zwingt. Lieb- lingssatz: »Hier stehen wir, wir können auch anders.« TOBIAS PRÜWER ▶ Wilhelm Genazino (Hg): Freiheit und Verantwortung.  Thesen heute. Stuttgart: J.B. Metzler 201. 2 S., 1, € Skandinavische Sus- pense gibts per Regalmeter. Schweden, Dänemark & Co. sind für spannungsgeladene (Psycho-)Thriller längst kein Qualitätsmerkmal mehr, sondern vor allem Werbeetikett. Die solcher Mode unver- dächtige Helle Helle spielt in »Wenn du magst« plötzlich auch mit dem großen Spannungsbogen. Und bleibt mit dem neuen Roman doch ganz bei sich selbst: Die skizzierte Extremsituation bildet nur den Rahmen für jene flüchtig-episodischen Alltagsbeobachtungen, die die dänische Auto- rin auszeichnen. Am Rande einer Tagung will Roar zum aller- ersten Mal joggen und verirrt sich prompt. Hum- pelnd – die neu gekauften Laufschuhe haben ver- schiedene Größen – trifft er auf eine andere orientierungslose Joggerin. Sie verkriechen sich in einer Schutzhütte, üben sich in Smalltalk und dämmern weg tief drin im nächtlichen Herbst- wald. Von hier aus schickt Helle den Leser auf den Weg durch Gedanken, Träume und Erinnerungen der beiden Hauptfiguren. Über Roar erfährt man wenig, dafür umso mehr von der vornamen- losen Joggerin, die in einem Klamottenladen jobbt. Szenen aus einer alternativen WG-Kom- mune ploppen auf, die aufgrund verschiedener Lebensentwürfe und unerfüllter Verliebtheiten auseinanderdriftet. Auch andere Beziehungs- gespinste erscheinen und verfliegen wieder. Der Alltag ist Helles Metier: Mit genauer Beob- achtung und Reduktion aufs Detail schildert sie Szenen, die am Leser wie an einem Passanten vorbeiziehen. Im Gegensatz zu den Vorgängern lässt »Wenn du magst« dann und wann Kopfkino zu. Einige Passagen geben einen unverstellten Einblick in das Innenleben der Figuren, so dass sich ihre Intentionen nicht nur aus Handlung und Dialogen erschließen lassen. Zumeist legt Helle aber lediglich leise Spuren – und entfes- selt so einmal mehr die eigenartige Kraft einer Lektüre, die in den Bann zieht, obwohl vieles im Unklaren bleibt. Helle beherrscht die Kunst der unblutigen Suspense: Der Alltag ist erschre- ckend-beklemmend genug. Man muss nur genau hinsehen – und ihn ertragen. TOBIAS PRÜWER ▶ Helle Helle: Wenn du magst. Aus dem Dänischen von Flora Fink. Zürich: Dörlemann 201. 12 S., 1, € | Rezension | | Rezension | | Rezension | Seibts Biografie »Karl IV. – Der Sammelband » Thesen heute« regt Zu- und Widerspruch an mit dem großen Spannungsbogen.

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