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kreuzer_12_2016 - Musik

Schlafen ist das neue Tanzen: Bei manchen Konzerten sollte man am besten einschlafen

040 Musik 1216 Spiel 032 Film 034 Theater 050 Literatur 058 Kunst 062 Termine 084 Auf dem Kopfkissen liegt ein Ferrero-Küss- chen. Matratze neben Matratze, auf denen orange Decken zum Einmummeln liegen, erset- zen die Konzertsessel. Menschen ziehen ihre Schuhe aus, legen sich hin. Denn hier soll es das Publikum möglichst gemütlich haben. So gemütlich, dass es einschläft. »Akku aufladen« lautet das Motto der Schlafkonzerte, die Julia Buch veranstaltet. Die Idee kam ihr – wie sollte es anders sein – im Traum: Da sah sie Konzert- besucher, die liegen. Während ihres Studiums an der Popakademie in Mannheim wurde immer wieder über den Werteverfall des Musikgeschäfts diskutiert, erin- nert sich die Leipzigerin. Doch bei einem Schlaf- konzert würden beide Seiten abgeholt werden: »Die Zuhörer, die nach ihrem Arbeitsalltag ent- spannen wollen, und die Musiker, die keine Performance abliefern müssen.« Aber ist es nicht schade für die Band, wenn die Gäste ihre Musik verschlafen? »Die Musiker müssen sich zurücknehmen können«, gibt Buch zu. »Und das können nicht viele.« Das Leipziger Jazz-Pop-Duo Stiehler/Lucaciu kann es, wie auch Kosho, Gitarrist der Söhne Mannheims. »Außer- dem verschlafen die Gäste ja nicht alles«, fügt Buch hinzu. Denn ihre Schlafkonzerte, die man auch als Firmenevent mieten kann, sind gut durchstrukturiert. Etwa 80 Minuten dauert die Vorstellung, die der Zuhörer in fünf Phasen durchlaufen soll: Abholen, Ankommen, Ausru- hen, Aufwachen, Aufstehen. Von 120 Beats per Minute (bpm) wird das Tempo bis auf 50 bpm gedrosselt. Die AOK unterstützt das Projekt. Gesünder kann ein Konzertabend wohl kaum werden – es sei denn, man legt beim nächsten Mal einen Apfel aufs Kissen. Der gesundheitsfördernde Aspekt von Musik ist inzwischen auch in den Hosentaschen ange- kommen. Es gibt Apps, die entwickeln auf Basis des Herzschlags vom Smartphone-Besitzer Beats, die ihn in einer stressigen Situation run- terholen sollen – zum Beispiel, wenn er einen Zug verpasst hat, wie ein Werbespot anpreist. Und es gibt Apps, die nach gründlicher Datenana- lyse medizinisch empfehlenswerte Songs für den Alltag vorschlagen. Eine Einschlafplaylist also, die zu den biometrischen Daten des Hörers passt. Das sind längst keine Spielereien mehr von Computernerds aus dem Silicon Valley, die damit übrigens eine Menge Geld verdienen. Auch der britische Komponist Max Richter, der derzeit das MDR-Sinfonieorchester als Artist in Residence unterstützt, hat sich für seine achtstündige Komposition »Sleep« mit einem Neurowissen- schaftler unterhalten, um sie dem menschlichen Biorhythmus anzupassen. Kein Schlaflied im klassischen Schlaf-mein-Kindchen-schlaf-ein- Sinne ist dabei entstanden, sondern pragma- tische Gebrauchsmusik. Die Uraufführung fand dieses Jahr in Berlin statt. Mehr als 400 Leute kamen, um gemeinsam auf Feldbetten im Berli- ner Kraftwerk zu Richters Musik einzuschlafen und wieder aufzuwachen. Der Club als Schlafsaal? Pennen als Event? Dass die eigentlich recht intime Tätigkeit des Schla- fens zu einem Kulturereignis gemacht wird, ist nicht neu. Auch schon vor Popakademien und Burn-Out-Diagnosen hat der Ambient-Musiker und Komponist Robert Rich sich mit Schlaf- phasen und Schlafforschung auseinander- gesetzt. Anfang der achtziger Jahre veranstaltete er in Kalifornien seine Sleep Concerts, die um zehn Uhr abends begannen und um sieben Uhr morgens mit einer Tasse Tee endeten. Für ihn stand nicht die Entspannung im Mittelpunkt, sondern die rege Gehirnaktivität direkt nach dem Einschlafen und vor dem Aufwachen, in der die Gedanken völlig unlogisch durcheinander- geraten. Dadurch, dass die Besucher selten die Tiefschlafphase erreichen – erstens, weil man selten mit so vielen Unruhe erzeugenden Men- schen auf engstem Raum zusammen und daher eh unruhig schläft, und zweitens natürlich wegen Richs Musik, bewegen sie sich die ganze Nacht zwischen der Einschlaf- und Aufwach- phase hin und her, die die verrücktesten Träume hervorbringen. Ein Rausch der Fantasie, in den Rich seine Fans befördern wollte – abgesehen davon, dass man seiner Musik sonst wahrschein- lich auch nicht stundenlang zugehört hätte. Als Heiko Wunderlich und Hartmut Trautvetter 2013 an einem von Richs wiederaufgeführten Sleep Concerts in Krakau teilnahmen, waren die beiden Leipziger begeistert und importierten die Idee direkt in einen hiesigen Schrebergarten. In dieser Nacht hatten alle Beteiligten so viel Spaß, dass im Februar 2016 das erste öffentliche Sleep-in-Konzert im Conne Island stattfand. Zu dessen zweiter Auflage legen nun auch Steffen Bennemann und Judith Crasser auf. Schlafsack muss man selbst mitbringen, statt Ferrero- Küsschen gibts nach neun Stunden Frühstück. JULIANE STREICH ▶ www.schlafkonzerte.de ▶ Sleep In Island mit Steffen Bennemann & Heiko Wunderlich, Judith Crasser: 2.12., Conne Island ▶ Max Richter: Sleep, eight-hour version, erschienen bei Deutsche Grammophon Schlafen ist das neue Tanzen Winterschlaf und wilde Träume: Bei manchen Konzerten sollte man am besten einschlafen Schlaft, Kinder, schlaft! Julia Buch (hinten links) macht Musik für Menschen, die sich mal ein Stündchen hinlegen wollen SEBASTIAN WEINDEL Der Club als Schlafsaal? Pennen als Event?

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