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kreuzer_10_2013

Neutralität ist eine süße Illusion: DOK Leipzig und die Wirklichkeit

Film 038 1013 Spiel 044 Musik 046 Theater 058 Literatur 068 Kunst 072 Termine 084 Um im Bankengeschäft in den oberen Etagen der großen Geldinstitute die Karriereleiter hochzusteigen, bedarf es der Beachtung klarer Regeln. Dazu gehört zum einen, dass man sich ganz in den Dienst des Unternehmens stellt. Zum anderen sollte man sich frühzeitig von seinem Privatleben verabschieden. Das erklärt Rainer Voss mit ruhiger Stimme gleich zu Beginn des Dokumentarfilms »Master Of The Universe«. Der Ex-Banker hat ganz oben mitgespielt. Im Film berichtet er von seinem eigenen Aufstieg in den achtziger Jahren und gewährt einen Insider- blick in eine Branche, die sich gern hinter Spiegel- fassaden bedeckt hält. Voss als Protagonist erweist sich für den Filmemacher Marc Bauder (»Das System«, 2011) als wahrer Glücksgriff. Statt Voss in seinem Zuhause zu zeigen, lässt Bauder ihn durch ein leer stehendes Frank- furter Bankengebäude spazieren und über den Irrsinn der Finanzwelt sinnieren. Er skizziert mathematische Gleichungen an eine Glaswand, spricht über Finanztheorie und absurde Bör- senspekulationen und prophezeit den totalen Kollaps. Bauders Film eröffnet die 56. Ausgabe von DOK Leipzig. Jedes Jahr taucht beim Festival – sei es in den Zuschauerreihen, Filmdiskussionen oder am Rande – die Frage auf, inwieweit ein Dokumentar- filmer ins Geschehen eingreifen darf oder nicht. Mal gibt es aufreibende Auseinanderset- zungen zwischen Filmemacher und Publikum wie etwa 2011 bei einem Screening zu »The Vodka Factory«, als der Regisseur es leid war, die Frage nach der zulässigen Inszenierung im Dokumen- tarfilm ein weiteres Mal zu beantworten. Und natürlich ist die Frage »Wie inszeniert ist ein Dokumentarfilm?« irgendwie ein alter Schuh. Grit Lemke von der Auswahlkommission hat dennoch festgestellt, dass es bei den diesjäh- rigen Einreichungen einen allgemeinen Trend zu fiktionalen Elementen im Dokfilm gibt. Das äußert sich auf ganz unterschiedliche Weise. »Deep Love« von Jan P. Matuszynski, der seine Weltpremiere im Internationalen Programm feiert, schaut sich an wie ein Melodram. Die emotionsgeladene Geschichte über einen passionierten Tiefseetaucher, der nach einem Unfall gelähmt ist und unbedingt wieder tau- chen möchte, wird von eindrücklichen Unterwas- seraufnahmen und Musik aus dem Off unter- malt. Ähnlich der roadmovieartige deutsche Wettbewerbsbeitrag »The Special Need« über einen geistig behinderten jungen Mann, der mit Freunden auf der Suche nach Liebe und sexuellen Abenteuern durch Europa tourt. »The Last Black Sea Pirates« im Wettbewerb für junges Kino mutet wie eine moderne Piratenge- schichte an. Die Existenz einer archaischen, auf einer kleinen Insel in Bulgarien lebenden Männergemeinschaft wird durch den Bau einer Ferienanlage bedroht. Angeführt wird der ulkige Haufen von, ja wirklich, »Captain Jack«. Svetoslav Stoyanov lässt die Männer vor der Kamera tanzen und drapiert sie um einen Weihnachtsbaum am Strand. Das Bildmaterial, welches hier ver- wendet wird, ist zwar meist authentisch, doch die Komposition der Bilder und Stoyanovs fil- mische Absicht sind stets präsent. Spätestens beim Wettbewerbsbeitrag »Just The Right Amount Of Violence« von Jon Bang Carl- sen ist man endgültig in der Grauzone zwischen Dokumentar- und Spielfilm angelangt. Der Film enthält fiktive Szenen, die zeigen, wie schwer erziehbare Jugendliche in L.A. nachts aus ihren Betten geholt und gegen ihren Willen in eine Art Erziehungscamp in Utah gebracht werden. Auf einer weiteren Ebene reflektiert er die pro- blematische Beziehung zu seinem Vater. Frei- lich stellt man sich bei Carlsens Film sofort die Frage nach Authentizität. Wirft man einen Blick auf seine Filmografie, erkennt man, dass es ihm vor allem darum geht, die Zuverlässigkeit von Bildern genauso wie Genreklassifizie- rungen zu hinterfragen. Welche gestalterische Möglichkeit Dokumen- tarfilm haben kann, ohne nur im Geringsten an Glaubwürdigkeit zu verlieren, zeigt sich an »Master Of The Universe«. Bauder hat dem Film nicht nur ein klares, visuell beeindruckendes Konzept zugrunde gelegt, indem er Voss (zunächst namenlos) in ein austauschbares lee- res Bankengebäude inmitten der Frankfurter City positioniert. Bauder bemüht weder gängige Medienbilder von wild gestikulierenden Ban- kern, noch reproduziert er Statussymbole reicher Banker. Hier wird der bewusste Blick Bauders deutlich, der sich immer wieder mit Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen filmisch ausein- andersetzt. Zu beobachten, ohne zu beeinflussen bleibt aber auch ohne nachträgliche Arrangements ein unüberwindbarer Widerspruch. Das Bild vom Dokumentarfilmer als vollkommen neutraler Beobachter ist eine süße Illusion. Menschen ver- halten sich einfach anders, wenn eine Kamera auf sie gerichtet ist. Das sieht auch Marc Bauder ähnlich, der mit Voss im Vorfeld der Dreharbei- ten klare Absprachen getroffen hat – auch auf- grund des heiklen Themas. Um dem Zuschauer die Möglichkeit zu geben, die Echtheit des Gese- henen selbst zu beurteilen, macht Bauder den mühsamen Prozess auf der Leinwand transparent und zeigt auch Auseinandersetzungen zwischen ihm und seinem Protagonisten. Voss weiß genau, was er sagen darf. Manchmal, wenn es ihm zu weit geht, bricht er von selber ab. »Nein, das sage ich nur ›off the record‹. Schalt mal die Kamera aus.« EILEEN REUKAUF ▶ DOK Leipzig: 28.10.–3.11., verschiedene Veranstaltungsorte, Eröffnungsveranstaltung mit »Master Of The Universe«: 28.10., 20.00 Uhr, CineStar Neutralität ist eine süße Illusion DOK Leipzig zeigt Dokumentarfilme aus aller Welt und wirft die Frage nach der dokumentarischen Wirklichkeit auf »Lass gut sein. Ich kann da nicht mehr zu sagen. Fertig!« Rainer Voss hat ganz oben mitgespielt in der Finanzwelt: »Master Of The Universe« von Marc Bauder BAUDERFILM ´

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