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kreuzer_10_2013

Rezensionen: "Abgang ist allerwärts", "Rückkehr in die Nacht", "Die Völkerschlacht bei Leipzig"

070 Literatur 1013 Film 038 Spiel 044 Musik 046 Theater 058 Kunst 072 Termine 084 Risse in der Dorfidylle Eine Nacht, aus der es keine Flucht mehr gibt Völkerverständigung oder totaler Krieg? Frei von falschem Pathos: Reinhard Kuhnerts Roman »Abgang ist allerwärts« Skrupellos-düster: Clemens Meyers und Phillip Jantas »Rückkehr in die Nacht« Kompakt und klar: Hans-Ulrich Thamers »Die Völkerschlacht bei Leipzig« Nach einer mutigen Meinungsäußerung zur Biermann-Aus- bürgerung sieht sich der Theater- und Fernsehautor Elias ins Abseits befördert. In der Idylle eines klei- nen Dorfes an der polnischen Grenze findet er Abstand und Ruhe zum Arbeiten. Durch regelmäßige Besuche in der Dorfkneipe und sein Talent zum Zuhö- ren verschafft »der Künstler« sich den Respekt der Männer, was so weit geht, dass er sogar der dörflichen Peepshow beiwohnen darf. Die Frauen zieht er durch Mitbringsel aus der besser ver- sorgten Hauptstadt auf seine Seite. Doch weil sich Elias von den Oberen des Staates nicht erpressen lassen will, entschließt er sich, sein Paradies zu verlassen und in den Westen zu gehen. Als er nach zwanzig Jahren zurückkehrt und erfährt, dass sich seine Freunde von damals an der Prämienjagd auf Flüchtlinge beteiligt haben, bekommt sein idyllisch ver- klärtes Bild des Dorfes Risse. Und als dann auch noch das frisch renovierte Schloss brennt, das einer »von drüben« gekauft hat, muss Elias resi- gniert feststellen: Schuld ist »im Grund das ganze Dorf«. Ohne jede Beschönigung und ohne in falsches Pathos abzugleiten gelingt es Kuhnert, jenes Gefühl der Ohnmacht wieder lebendig werden zu lassen, das viele noch heute spüren, wenn sie an den real existierenden Alltag dieser Zeit zurückdenken. Der zunächst etwas seltsam anmutende Romantitel gewinnt erst mit der Ausreise des Protagonisten seine vollumfängliche Bedeutung: Der Abgang bezeichnet eben nicht nur das Verschwinden volkseigener Kalksäcke oder die Ausreise ehe- mals engagierter Intellektueller, sondern vor allem auch das historische Endergebnis all dieser Einzelabgänge: den Abbruch des Massen- experimentes DDR.KARSTEN MÖCKEL ▶ Reinhard Kuhnert: Abgang ist allerwärts. Leipzig: Plöttner Verlag 2013. 225 S., 16,90 € Gerade erst hat der Literatur- betrieb Cle- mens Meyers großspu- rigen zwei- ten Roman in die Arme geschlossen, da wird von der Connewitzer Verlagsbuchhand- lung noch ein weiteres Buch des Leipziger Erfolgsautors in die Regale gestellt. Die Erzäh- lung »Rückkehr in die Nacht« ist eine atmo- sphärische Kurzgeschichte in Meyers typisch bellendem Sozialromantikstil, eine düster- skrupellose Fluchtgeschichte zwischen Klein- und Großkriminalität irgendwo in der säch- sischen Vorstadt-Wüste. Die Zeichnungen von HGB-Absolvent und kreuzer-Illustrator Phillip Janta, meist menschenleer und in dunkle Stille getaucht, evozieren dazu passend den Eindruck einer grauen Ödnis, von der nicht nur die Häuser, sondern auch die Menschen befallen scheinen. Auf der Flucht vor seiner Vergangenheit pendelt der Ich-Erzähler zwischen seinem alten Kum- pel Frank, der mit Dosenbier und Kippen auf einem abgestellten Boot haust, und den leer- gefegten Straßen des Ortes, auf denen sich zwi- schen NPD-Kneipe und Trinker Thilo eine ewige Räuber-und-Gendarm-Mär abzuspielen scheint. Doch einfach hinter sich lassen kann »Herr Nowak« das alles nicht. Die Polizei findet seine Wohnungstür auch im Schatten der Nacht. Die Vergangenheit: Das ist vor allem sein kleiner Bruder, der mit tschechischem Meth den großen Coup landen wollte. Es ist seine Freundin, die auch in den Sog der Droge gezogen wurde, oder eben Frank, der einmal mit Margot Honeckers Golf ein Riesengeschäft gemacht hat und nun unter Verfolgungswahn leidend in seinem Boot hockt. Die Gegenwart ist das Klopfen der Polizei an der Tür. Die leere Wohnung des Bruders. Die Atemlosigkeit des Erzählers. Es ist die Einsamkeit in der Nacht. Eine Nacht, aus der es keine Flucht mehr gibt, höchstens die Sehn- sucht nach dem Meer. Wer »Im Stein« schon hinter sich hat, kann hier gleich weitermachen. JONATHAN NÜBEL ▶ Clemens Meyer: Rückkehr in die Nacht. Illustriert von Phillip Janta. Leipzig: Connewitzer Verlagsbuchhandlung 2013. 54 S., 20 € Mitte Oktober jährt sich die Völker- schlacht zum zweihun- dertsten Mal. Plakate mit quietschbuntem »Völki« in Pop-Art- Manier beherrschen die Werbeflächen, in den Auslagen der Buchhandlungen stapeln sich verschie- denste Veröffentli- chungen zum Thema. Allein im laufenden Jahr sind vier popularhis- torische Abhandlungen erschienen. Eine davon hat der Münsteraner Historiker Hans-Ulrich Thamer vorgelegt. Unter allen ist seine Darstel- lung die kürzeste, doch sie überzeugt durch ihre nüchterne Herangehensweise und klare Sprache. Neben der Beschreibung des Kampfgeschehens und dessen Vorgeschichte in den Napoleo- nischen Kriegen legt Thamer sein Hauptaugen- merk auf die späteren nationalen Mythen- bildungen. Unterschiedlichste Gruppierungen versuchten, den Sieg bei Leipzig für ihre ideolo- gischen Zwecke zu nutzen: die deutschen Monarchen, die liberal gesinnten, die nationale Einheit fordernden Burschenschafter, aber auch Nationalsozialisten und das SED-Regime. Je nach politischer Couleur sah man in der »Völkerschlacht« (die Namensgebung entspricht ja selbst einer bestimmten Deutung) Höhe- punkt und Ergebnis eines »Befreiungskrieges«, eines »Freiheitskrieges«, eines »totalen Krieges« oder einer »Volksbewegung«. Thamer plädiert entschieden für eine unpoli- tische, rein geschichtswissenschaftliche Sichtweise. Trotzdem (oder vielmehr gerade deswegen) drängt sich dem Leser die Frage auf, unter welchen politischen Vorzeichen wohl der offizielle Rückblick im »Jubiläumsjahr« steht. Tatsächlich scheint auch er nicht völlig frei von politischer Instrumentalisierung zu sein, etwa wenn im Festprogramm eine Linie von der »Völkerschlacht« 1813 zur europäischen »Völ- kerverständigung« 2013 gezogen wird. Ob die etwa 100.000 Gefallenen mit dieser Sinnzu- schreibung ihres Schicksals (so gut sie gemeint sein mag) einverstanden gewesen wären, ist zumindest fraglich. MAXIMILIAN PÖTZSCH ▶ Hans-Ulrich Thamer: Die Völkerschlacht bei Leipzig. Europas Kampf gegen Napoleon. München: Verlag C. H. Beck 2013. 126 S., 8,95 € | Rezension | | Rezension | | Rezension |

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