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kreuzer_10_2013

Rezensionen: "Train", "Merhaba Türkiye", Wozu Theater?

062 Theater 1013 Film 038 Spiel 044 Musik 046 Literatur 068 Kunst 072 Termine 084 Bahnhöfe sind langweilige Durchgangsstati- onen. In diesen Transiträumen passiert nie etwas, in den buchstäblichen Nicht-Orten will sich wirklich niemand freiwillig aufhalten. Just an einen solchen Flecken Langeweile versetzt »Train« das Publikum. In der Pampa, irgendwo am Arsch im Alpenraum, warten Reisende auf Anschluss. Währenddessen schleicht sich Zug um Zug ein Kunststück nach dem anderen ein ins Setting und vertreibt die Schwermut an der Bahnsteigkante. Jenes Roadmovie-Gefühl, verloren und ganz auf sich gestellt unterwegs zu sein, bringt die internationale Akrobatikshow im Krystallpalast gekonnt auf die Schienen. Exaktes Timing und außergewöhnliche Performances prägen den Abend, dem trotz spektakulärer Leistungen das sensationsheischende Brimborium man- cher Varieté-Schau abgeht. Von Livemusik begleitet und kleinen Spielszenen sowie allerlei Sprachspielerei eingerahmt, sind atemberau- bende Hand-auf-Hand-Nummern zu sehen, bei denen sich ein Duo durch den Raum schleu- dert. Im Single Wheel schaukelt sich eine Künst- lerin durch den Wartesaal und ein Besen wird zum Mittelpunkt einer transrapiden Jonglage. Koffer gehen auf Crowdsurfing durchs Publi- kum und beim Salto auf dem Seil stehen alle Räder still. Diese Schau ist Cirque Nouveau auf höchstem Niveau: Hier verdichten sich Story und Bewegungskunst zum meisterlichen Unterhaltungsschienenstrang. TOBIAS PRÜWER ▶ Train«, bis 3.11., verschied. Zeiten, Krystallpalast Willkommen an Bord«, begrüßt die Flugbe- gleiterin Harika an Bord der Cammer- spiele Airlines kurz vorm Take-off in die Türkei. Dann hebt die Maschine ab und die Passagiere erhalten eine Einführung in die Landeskunde. Dass diese eher individuell denn allgemein ausfällt, versteht sich im intimen Cammerspiel- Saal von selbst. So werden unter der Moderation der Stewar- dess – manchmal greift Harika dann doch direkt ein – deutsch-türkische Anekdoten und Missverständnisse in den Bühnenraum geholt. Genervt von Sarrazins Begriff der »Kopftuch- mädchen« und der zigsten Migrations- und Parallelgesellschaftsdebatte gruben sich Sarah und Bilal für »Merhaba Türkiye – Hallo Türkei« tief in die Recherche. Er ist türkischstämmig und in Deutschland aufgewachsen, sie hat ein Auslandsstudium in Istanbul absolviert. Hinschauen statt dampfplaudern ist die Leit- kultur ihrer Performance, die den Finger in die Wunde Einwanderungsland legt. Das gelingt in sehr persönlichen Szenen, wenn Bilal etwa von seiner Familie erzählt oder von Sinn und Form des Gebets. Auch Machokult, Rassismus und NSU sind Teil der Patchwork- inszenierung. Dabei folgt diese dem mutigen Ansatz, die Erfahrungen der Protagonisten selbst in den Mittelpunkt zu rücken, statt wie üblich zu erklären, dass dieses – nicht mehr – fremde Essen ganz lecker und diese Tänze ja auch ganz schön seien. Hier klingen auch die Ecken und Kanten an, die sich eben zeigen, wenn Menschen zusammentreffen und -leben. Schon insofern übersteigt dieser binationale Ausflug den Horizont jener, die sich kulturelle Vielfalt als Diskokugel vorstellen – Hauptsache, es schimmert so schön. TOBIAS PRÜWER ▶ »Merhaba Türkiye – Hallo Türkei«: 17./18., 22./23.10., 20 Uhr, Cammerspiele TOMSCHULZETHOMASPUSCHMANN »Hallo Türkei«: Bilals Cousin spricht über Deutschland Schwerkraft Adieu: Besen, Besen ists gewesen Ein Nicht-Ort der Begeisterung Binationale Horizonterweiterung Die Gesellschaft des Theaters Mit Besen und Bagage fegt »Train« jede Schwermut von der Bahnsteigkante Eine intime Performance begibt sich in türkisch-deutsche Lebenswelten Soziologische Streifzüge durch die Bühnenwelt Wir alle spielen Theater«, fasste ein amerikanischer Soziologe die spätka- pitalistische Gesell- schaft zusammen. Berufskollege Dirk Baecker stimmt dem zu, nimmt aber weniger die Gesell- schaft mit theater- theoretischen Mit- teln in den Blick. Er wendet sich soziologisch dem Theater zu. Diesem weist er eine wichtige Aufgabe zu, die sich nicht darin erschöpft, politisch, pädago- gisch oder populär zu sein. Wenn Gesellschaft, so Baeckers Unterstellung, vor allem durch und über ihre Kommunikation beschreibbar ist, dann kommt dem Theater hier große Bedeutung zu. Theater hat, das klingt in allen hier versammelten Gelegenheitstexten an, eine gesellschaftliche Funktion. Genau um deren Erhaltung und inhaltliche Füllung müsse das Theater streiten. In vielen Wendungen und Windungen schlängelt sich der Leser durch Baeckers verzweigte Gedankengänge. Kurzwei- lig ist es nicht, aber auch nie langweilig, am ehesten eine Lektüre, die man immer mal wie- der weglegt und dann erneut aufnimmt. Man kann es als Aufruf an Theatermacher und -freunde verstehen, als Anregung. Vielleicht führt man den Text selbst sogar auf oder vor? Baecker wirds gefallen: »Manchmal ist der Tanz die bessere Soziologie«. TOBIAS PRÜWER ▶ Dirk Baecker: Wozu Theater?. Berlin: Theater der Zeit 2013. 201 S., 18 € | Rezension | | Rezension | | Rezension |

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